Mama hatte es uns erklärt. Die Anrede Sie war den Menschen hier nur aus Geschichtsbüchern bekannt. Als sie das erklärt hatte, fragte ich, ob das so ähnlich sei wie bei uns, als früher Seine Majestät mit Er angeredet wurde, aber das verstand sie nicht, weil das in ihren Büchern nicht vorkam. Verlegen hatte sie nur überlegt „Vielleicht? Kann sein.“
Von der eigentlichen Produktion sah ich kaum etwas. Auf der einen Seite floss eine schwarze teerige Masse in die Apparaturen hinein, Schautafeln stellten dar, wie sie phasenweise umgewandelt wurden, und bevor ein Mensch direkt zugreifen konnte, kamen jene verpackten Räucherschinken heraus, die wir als Andenken an diesen Ausflug geschenkt bekamen. Ohne Ernst hätte ich nicht so früh gewusst, dass das Zeug genauso köstlich rocht und schmeckte wie es aussah. Natürlich hatte der aus seinen Taschen ein Messer hervorgeholt und die Verpackung aufgeschnitten.
Bis zu der großen Fressorgie war das eigentlich das einzig Erwähnenswerte, genauer bis zu jenem Punkt der Verkostung, bei dem Hannes mit voll gestopftem Mund fragte:
„Wo ist eigentlich Maria?“
Tatsächlich war sie verschwunden. Keiner hatte sie nach ihrer Gähn- oder Übelkeitsattacke bemerkt – also seit etwa eineinhalb Stunden. Die gewaltigen Produktionsanlagen hatten unsere Aufmerksamkeit wohl doch gefangen genommen, jedenfalls mehr als unser Begleiter.
Es wurde Werksalarm gegeben. Wir sollten uns in den Zentralraum setzen. Und still staunen. Alle Arbeiter sammelten sich in der Cafeteria. Jetzt erst wurde mir die sonst allgegenwärtige Geräuschkulisse bewusst. Die ganze Zeit über hatte uns ein leises Raunen begleitet. In der Nähe der Fließstraße hatte es ein wenig zugenommen, aber es war immer und überall da gewesen. Nun hatte man die Apparatur abgestellt und plötzlich herrschte Leichenstille.
Paps redete halblaut.
„Mal sehen, ob sich unsere vielen Übungen im Ernstfall bewähren. Jeder bekommt jetzt einen Antipieper. Damit suchen wir an Orten wie hier nach Menschen, wo es so viele ablenkende Strahlen gibt. Seine Sensoren haben eine sehr kurze Reichweite. Im Umkreis von maximal 20 Metern erkennt er einen lebenden Menschen, von dem kein solcher Sensorstrahl ausgeht. Den piept er dann an, und wir haben unsere Maria wieder. Im Märchenwald würden wir Peilgeräte benutzen, weil jeder Vermisste normalerweise einen Sender bei sich trägt. Dort weiß er um die Gefahr und will gefunden werden. Das macht die Suche einfacher.“
Über eine riesige Tafel breiteten sich gerade Striche aus. Sie kreuzten sich und vor unseren Augen wurden daraus zusammenhängende Felder. Von Minute zu Minute mehr. Schließlich leuchtete fast die ganze Tafel. Paps schwieg. Mir war bewusst, was das bedeutete. Als es überhaupt kein unbeleuchtetes Feld mehr auf der Tafel gab, trat der Ingenieur, der uns geführt hatte, auf uns zu.
„Eure Maria ist nicht auf dem Werksgelände. Das tut mir leid. Wir haben die Polizei benachrichtigt. Draußen macht die die Sensorfahndungen.“
Er schien auf eine Bestätigung von uns zu warten. Doch der Mann, den er als unseren Leiter erlebt hatte, Ernst nämlich, war verschwunden. Trotz seiner Masse offenbar ohne, dass irgend jemand bemerkt hatte, wann. Die Sache wurde unheimlich. Plötzlich konnte sich nämlich niemand mehr daran erinnern, dass er überhaupt mit uns im Zentralraum gewesen war. Ich drängte zum Schichtleiter.
„Vielleicht habt ihr etwas übersehen. Wenn wir noch einmal von vorne ...“
„Das hätten wir jetzt sowieso getan. Es ist mir ja alles so peinlich. Wenn ich nur eine Idee hätte, was wir noch tun könnten ...“
Die Idee brauchte er nicht mehr. In der Haupttür stand Ernst. Er hielt Maria in seinen Pranken.
„Chefin?“
Dabei schwankte er ein wenig angetrunken wirkend auf mich zu.
„Ich hab da eine Frage zur Geschäftsordnung. Nämlich, ob ich in unserem Quartier die Patenschaft über meine Rieke übernehmen kann. Sie ist einverstanden. Ich schnarche auch nicht.“
Er sah mich wieder mit seinem schrecklichen Bitte-bitte-Hundeblick an.
„Was meinst du mit Patenschaft? Willst du uns nicht verraten, wo du sie gefunden hast?“
„Aber nur, wenn ihr uns versprecht, dass ihr danach nicht laut werdet!“
„Versprochen!“
Ernst sah mich an, als hätte er Knallfrösche in meinen Taschen versteckt. Gleich würden sie explodieren.
„Also am Ausgang des Werkgeländes ist eine Poliklinik. Rieke wollte zu einem Höhlenforscher. Sie hatte ... also eigentlich, sie hatte keine ... Jedenfalls hat der ihr bestätigt, was wir, also Maria und ich, nicht zu hoffen gewagt haben. Wenn die Zeit ran ist, dann sind wir beide zu dritt, also wir alle zusammen fünfzehn. Tut uns Leid, wir dachten, sie wäre rechtzeitig unbemerkt wieder zurück.“
Ein Augenblick herrschte grüblerische Stille. Ich brauchte einen Moment, um zu erfassen, dass hier jemand eine eigentlich unmögliche Schwangerschaft durch die Jahrhunderte geschleppt hatte. Nicht nur ich. Denn wir brachen unser Versprechen. Wir brüllten wie wahnsinnig. Ich wagte meine Ängste nicht unter die Freude zu mischen. Dieses winzige Wesen hatte drei Transformationen seiner Mutter mitgemacht. Konnte es das überhaupt überstanden haben? Oder lag die Zeit der Probleme hinter uns?
An diesem Nachmittag gab es eigentlich nur eine Frage „Wie war das möglich.“ Hatte sich die Natur selbst geheilt? War vielleicht die Krankheit nicht mit durch die Vergangenheit gereist? Aber der eigentliche Akt musste noch vor unserem Zeitreisestart erfolgt sein. Vielleicht hatten die vielen Veränderungen in Marias Körper das mütterliche Ei und den müden Wanderer zusammengeführt? Eine schlüssige Antwort gab es nicht. Unumstritten war nur, was Ernst als Kommentar zu der Angelegenheit zum besten gab:
„Das haben wir doch gut hingekriegt. Stellt euch mal vor, unser Kind hätte ein halbes Jahr früher angefangen, in Maria zu wachsen: In seinem Ausweis stände als Geburtstag 30. April 1525. Dann wäre es bald 700 Jahre alt!“
Martina hatte mich während unserer Werksbesichtigung angesprochen, ob sie mich einmal unter vier Augen sprechen könnte. Sie habe ein peinliches Problem mit ihrem Gastgeber.
„Gut, heute Abend um neun“, hatte ich ihr zugeflüstert.
Dann aber beherrschte das bevorstehende freudige Ereignis unsere Aufmerksamkeit und ich vergaß Martinas Bitte. Am nächsten Morgen sah sie mich fragend an. Das war alles. So wichtig konnte ihr Problem also nicht sein, dachte ich.
Der Thingmann in der Familie
Am nächsten Morgen aber passte sie mich auf dem Flur ab. Sie musste mich die ganze Zeit beobachtet haben, denn ich lief kaum einmal allein durch die Wohnung.
„Gut, bringen wir’s hinter uns. Am besten sofort“, entschied ich. Also zogen wir uns ins Schließzimmer zurück, dem Treffpunkt für Familienmitglieder, die einmal wirklich nicht gestört werden wollten. Kaum hatte sie die Tür hinter uns verschlossen, flüsterte Marti auch schon:
„Du musst mir helfen: Paps baggert mich die ganze Zeit heimlich an. Er will eine Affäre mit mir, dabei hat er doch Mama. Außerdem will ich nicht mit ihm.“
„Ist er denn handgreiflich geworden?“ fragte ich.
Martina antwortete stockend:
„Nein, nicht direkt. Er organisiert nur ständig Situationen, wo wir allein miteinander sind. Dann begrapscht er mich. Und flüstert so ein Zeug, von wegen er möchte mich ans Bett fesseln und mit Schokolade überziehen, damit ich noch appetitlicher ... ach, lassen wir das!“
Sie lief einfach davon. Das war unsere Aussprache. Sollte ich daraufhin etwas unternehmen? Wenigstens wollte ich mich informieren, wie hier mit solchen Problemen umgegangen wurde – wenn es überhaupt ein Problem war. Bis zum nächsten Familienausflug war zwar nur noch eine halbe Stunde Zeit, aber heute würde sich ausgerechnet alles um Paps drehen.
Tatsächlich gab es im Netz Artikel zum „Umgang mit sexuellen Verhaltensstörungen“. Demnach konnten wir eine Art Familienthing einberufen. Der würde Paps eventuell zu einem Therapeuten schicken oder aus der Familie ausschließen, was die höchstmögliche Strafe überhaupt war. Nach erfolgreicher Behandlung suchte ihm der Therapeut eine neue Familie. Hm. So weit war es wohl nicht.
Paps hatte uns erzählt, dass er bis zum Ende des letzten Jahres Abgeordneter des Thing gewesen war. Das Wort kannte ich. Ob das so etwas wie die Volksversammlung der alten Germanen sein solle, hatte ich ihn gefragt.
„Zumindest das Wort kommt daher.“
Heute wollte er uns in den Glaspalast führen, in dem er während seiner Amtszeit gearbeitet hatte. In dem riesigen Bau fänden, so erklärte er uns, regelmäßig große und kleine Sport- und Kulturveranstaltungen statt. Er war mit Than zusammen aufgetaucht. Ich hatte also keine Gelegenheit, ihn unter vier Augen zu sprechen. Dafür erklärte er uns alles voller Begeisterung:
„Hier kommen die verschiedensten Klubs und Gruppen zusammen. Schließlich machen wir hier nicht nur große Politik. Den Schüler solltet ihr mir zeigen, der noch nie hier war. Die meisten finden eine Gruppe nach ihren Vorstellungen. Es gibt wirklich alles. So ganz nebenbei erreichen wir, dass alle gerne Thingfrau beziehungsweise Thingmann werden wollen. Egal, wer welches Problem mit seiner Umwelt hat - er kann es hier zur Diskussion stellen. Wir finden Lösungen. Unsere Leute erarbeiten sich ihr Ansehen durch gute Ideen, die möglichst vielen anderen nutzen. Am häufigsten diskutieren wir darüber, welche Arbeiten wie aufgeteilt werden können. Diskussionen gibt es meist auch darüber, was unsere Kinder und Jugendlichen lernen sollen und wo beziehungsweise wie unsere Transporte lang laufen.“
„Gibt es bei euch demokratische Wahlen?“
Siegrid fragte das mit einem provozierenden Unterton. Als ob es das Wichtigste auf der Welt wäre, einmal innerhalb von Jahren ein Kreuz bei Leuten zu machen, die sich nachher nicht darum scheren, was sie vorher versprochen hatten.
„Jedes Thingmitglied wird alle zwei Jahre direkt in seinem Kreis gewählt und es muss seinen Wählern gegenüber erläutern, zu welchen ihrer Interessen es welche Position im Thing vertreten will. Meinst du das?“
„Zum Beispiel.“
Man sah ihr an, dass sie nicht zufrieden war. Paps aber erzählte weiter:
„Meistens werden wir uns ohne Abstimmen Mehrheit gegen Minderheit einig. Gut, beim Transport gibt es oft Streit. Dass wir Taxen an Stelle von Privatwagen einsetzen, wo Liniennetze nicht lohnen, finden alle vernünftig. Sobald es aber darum geht, welche Stationen und Wege ausgebaut werden sollen, müssen wir Kompromisse suchen. Ein Elektrobus könnte ja spielende Kinder gefährden, und die Straße zerstört ein Stückchen der Natur. Also soll nicht gebaut werden. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Freunden, Verwandten und Veranstaltungen wollen wiederum alle hinkommen. Dann sollen doch Wege gebaut werden.“
Ich lächelte still. Wenigstens eines der Probleme in dieser Welt war mir nicht fremd.
„Am liebsten ließe sich ja jeder hin und her beamen. Aber diese Geräte zur Umwandlung von Körpern in Energiestrahlung und zurück sind aufwendig herzustellen und kompliziert zu bedienen. Vielleicht sind wir mal so weit, dass jedes Haus eine Beamrampe hat, und wenn wir zur Haustür rauskommen, stehen wir in einer Erholungslandschaft. Lacht nicht! Über so etwas diskutieren wir, und viele Menschen arbeiten schon an solchen Projekten.“
Wir hatten gar nicht gelacht. Es mutete einfach nur märchenhaft an. Vielleicht genierte sich Paps einfach solcher Träume wegen.
„Wie viel müsst ihr denn so arbeiten?“
„Hm. Also erstmal weiß ich nicht, was du überhaupt unter Arbeit verstehst. Wir wollen uns durch nützliche Tätigkeiten schließlich keinen unnützen Stress organisieren. Wenn es darum geht, normal zu einer Arbeit zu gehen, haben wir hier einen Vierstundentag und eine Vier-Tage-Arbeitswoche. Es gibt sogar so etwas wie Arbeitspflicht. Fünf Jahre sollte jeder in seinem Leben organisiert gearbeitet haben. Aber Kinderpflege und –erziehung wird auch zu Hause gemacht und geht natürlich vor.“
„Wer Kinder aufzieht, arbeitet also nach eurer Auffassung?“
Martina fragte sicherheitshalber nach. Als Paps nickte, „Und nicht nur sechzehn Stunden die Woche ...“, brummte sie: „Endlich sieht das mal einer ein.“
Wir lachten. Paps aber fuhr unbeirrt fort:
„In Produktionsanlagen läuft die eigentliche Arbeit meist voll automatisch. Die sie überwachen produzieren nicht. Was machen sie also praktisch die meiste Zeit? Sie unterhalten sich miteinander. Trotzdem ist das Arbeit. Televidieren oder lesen von zu Hause aus - damit werden wir klüger und besser. Wozu soll Arbeit denn sonst gut sein? Unsere Familie lebt jetzt für euch und tauscht Erlebnisse mit euch aus. Später machen wir daraus Programme und Artikel für andere. Gut, für fremde Menschen gedachte Unterhaltungs- und Informationssendungen müssen produziert werden. Lustige neue Ideen hat immer mal jemand. Was glaubt ihr, wie viele Geschichten die Leute von ihren Reisen heimbringen. Was die anderen so vorführen möchten! Die schwerste Arbeit ist es da, auszusortieren, was am besten kein anderer zu Gesicht bekommt.“
Nicht nur ich musste lachen. Wir stellten uns die verwackelten Urlaubsfilme der Großtante bei der Familienfeier als öffentliches Programm vor.
„Jeder kann bei uns Unterhaltung und Wissen in die Unterhaltungs- und Datennetze stellen, sich selbst öffentlich darstellen. Unsere Hauptkanäle sortieren und bieten an, was wir für allgemein wichtig halten. Das ist echte Arbeit.
Eine besonders interessante Aufgabe haben die Einsatzberater. Das ist ein spannender und komplexer Beruf. Für jeden Arbeitswunsch müssen sie prüfen, was davon sich machen lässt. Da kommen alle Jugendlichen hin, und wer später noch gern weiter arbeiten möchte, dem empfehlen wir nach fünf Jahren, seine Einsatzstelle zu wechseln. Damit er nicht geistig einrostet. Schließlich ist es eine wichtige Lebensentscheidung, ob sich die jungen Lebensgemeinschaften erst einmal ganz der Harmonie und Erziehung ihrer Kinder widmen wollen oder ob sie etwas anders Nützliches tun möchten, weil sie sich dazu nicht geeignet fühlen.“
„Hier gibt es also auch Babyjahre?“
„Also ich fürchte, ein Achzehnjähriger würde sich ungern Baby nennen lassen.“
Paps merkte an unseren verständnislosen Gesichtern, dass wir ihn nicht begriffen.
„Na ja, Es kann doch nicht angehen, dass die Eltern nicht da sind, wenn die Heranwachsenden Hilfe brauchen. Also richten wir alles darauf ein, dass Kindererziehung so lange möglich ist, bis die Herangewachsenen selbst eine Gemeinschaft bilden wollen. Das kann dauern, ist doch aber das Wichtigste im Leben, oder?“
An mehr kann ich mich nicht erinnern. In meinen Gedanken hörte ich Nuk, wie sie mit vierzehn bei Mama und Paps bleiben wollte, und dann sah ich Martina mit Schokolade überzogen vor Paps liegen. Das musste ich alles noch einmal in Ruhe überschlafen.
An diesem Abend lag Nuk schon in ihrem Bett. Ich zog mich aus und legte mich einfach zu ihr. Sofort wurde ich wie ein Teddy umschlungen.
„Brauchst nicht zu weinen; ich bin ja bei dir“, murmelte das Mädchen im Halbschlaf. Nicht lange, dann atmete sie wieder gleichmäßig. So schlief auch ich ein.
Am nächsten Vormittag hielt uns Viet einen Vortrag in Systemethik. Wahrscheinlich waren seine Ausführungen interessant. Aber meine Gedanken irrten einfach zu oft ab, um ihm geistig zu folgen. Manchmal wiederum spann ich Viets Faden weiter. Ich fand es faszinierend und verwirrend zugleich, wie viele uns vertraute Arbeiten und Beziehungen plötzlich verschwanden oder sich änderten, weil es hier kein Geld gab. Während Viets Steuerkommandos ein Wirtschaftsschema an der Wand verschoben, dachte ich plötzlich, unsere Zeitreisemannschaft machte gerade alles verkehrt. Viet hatte uns um Fragen gebeten, und ich versuchte, meine Zweifel in Worte zu fassen.
„ ... Du entschuldigst, Viet. Das hört sich alles echt schön an. Aber selbst, nachdem wir das angehört haben – also ich verstehe nicht, wie das praktisch funktionieren kann. In einem bist du auch nicht ehrlich. Wenn ich betrachte, was ihr Wohnung nennt – also wenn das kein Luxus ist! Ihr jagt durchaus einem verschwenderisch guten Leben hinterher. Und dann, ohne Kampf um ein Ergebnis, das jeder schnell in den Händen hält, wofür sollte er dann streben? Du kannst uns noch viele Vorträge halten und durch Werke führen oder so. Also eigentlich, was meint ihr, sollten wir nicht lieber selbst arbeiten? Dann würden wir merken, wie das hier ist. So wie in deinem Vortrag oder ... ich weiß nicht.“
Die anderen stimmten mir zu. Ernst sagte sofort „So ist es“. Auch Viet. Er meinte allerdings noch:
„... In zwei Punkten muss ich dir widersprechen: Luxus nenne ich etwas, was einer hat, ohne es zu brauchen, viele andere sich aber nicht leisten können. Platz zum Leben braucht aber jeder, zum Alleinsein und für die Familie. Wo ist da Luxus? Notfalls bauen wir eben ein paar Etagen höher. Und dann: Das ganze Zusammenleben funktioniert bei uns eben gerade deshalb, weil jeder schnell etwas in den Händen hält. Habt ihr etwa Geld gezählt, um es zu zählen? Doch wohl eher, um etwas davon zu kaufen, euch wohler zu fühlen und sicherer, wenn ihr welches hattet, oder? Dieses Gefühl der Zufriedenheit und Sicherheit ist bei uns sofort da. Ohne Schein zwischendurch. Aber das kann man wohl wirklich schlecht beschreiben.“
Als wir später auf unsere Zimmer gingen, sprach mich Siegrid an.
„Du, Anna, ich finde das ja nicht schlecht mit dem hier Arbeiten. Aber hast du dir auch überlegt, wer von uns was machen soll? Hier läuft doch alles ganz anders als bei uns. Es ist lauter Zeug gefragt, bei dem wir unser Wissen, unser Studium, Erfahrungen, was weiß ich, eben alles, total wegschmeißen können. Für welche Aufgaben sind wir denn geeignet? Oder sollten wir noch einmal die Schule anfangen?“
Etwas verlegen war ich stehen geblieben.
„Du Sigi, das habe ich mich selbst schon gefragt. Aber wir gehören hier in eine Familie. Die helfen uns bestimmt. Da wird sich schon etwas finden.“
Das klang sicherer und überzeugter, als ich mich in Wirklichkeit fühlte. Wir waren Exoten in dieser Zeit. Aber schließlich konnten wir uns nicht in einen Schaukäfig stecken lassen – Seht, was es einst für Homo sapiens gegeben hat!
„Du hast gut reden. Du mit deinem Psychostudium. Damit stehst du hoch im Kurs. Aber hast du mal daran gedacht, dass andere von uns Sachen gelernt haben, nach denen hier bestimmt kein Schwein fragt?“
Wütend rannte sie davon. Ich überlegte. Nein, tatsächlich. Ich hatte keine Ahnung, welchen Beruf Sigi einmal erlernt hatte. Ich hatte sie für eine Mechatronikerin gehalten. Aber vielleicht war sie gelernte Bankkauffrau und Heinz hatte sie ins Team geholt wie Gunti damals mich? Selbst die, die etwas technisch Praktisches gelernt hatten, standen lauter fremden Mechanismen gegenüber. Wir alle waren geistig Zurückgebliebene für die Menschen dieser Zeit.
Ich sprach mit Mama darüber.
„Du hast ja Recht“, beruhigte sie mich. „Im Prinzip. Aber sieh es nicht so streng. Zwei Sachen vergisst du: Ob ihr wollt oder nicht, ihr seht aus wie Jugendliche. Nehmt das doch als Chance an. Man hält euch für Neulinge im Leben. Die Lebenserfahrung, die ihr eurem Äußeren voraus habt, kann euch niemand nehmen. Damit werdet ihr überzeugen. Und Nuk hat dir bestimmt von der Schule erzählt.“
Ich überlegte. Dann fiel es mir ein. Das uns fehlende Spezialwissen konnte unseren Gehirnen direkt infiltriert werden oder wie das hieß. Wir würden also sehr schnell Sachen wissen, die wir jetzt nicht wussten. Ich konnte mich ja erkundigen, wie das genau funktionierte.
„Ich mache euch Termine für die EBs, die Einsatzberatungsgespräche. Nuk bringt euch hin. Überstürzt nichts. Aber ihr könnt anfangen, wenn ihr wollt. Setzt euch an den Compi, und fangt an, jeder für sich, das Programm 7000 abzuarbeiten.“