„Die brauchen wir für die Komm-Kurse. Erst muss das Wissen bewiesen werden, auch mal mit Pauken, sagen unsere Lehrer, dann machen wir was Verrücktes damit. Eben Komm-Kurse. Klar?“
Klar war mir gar nichts. Komm-Kurse – das klang wie Kommunismus-Kurse, abgekürzt. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass eine etwa Zwölfjährige die begeistert „etwas Verrücktes“ nannte.
„Versteh schon.“
Oh Gott, jetzt hatte Nuk wieder diesen belehrenden Tonfall. Hätte ich mich bloß weiter schlafend gestellt!
„Nichts verstehst du. Merk ich doch. Also: Wir sind eine Klasse mit 24 Schülern. Oder 28, wenn wir Grinser und die Füchse dazu rechnen. Da gehören immer zwei Lehrer dazu. Die machen, sagen wir mal, Unterricht Multiplikation B. Da steht einer vorn und einer läuft rum und hilft. Dann schreiben wir am Compi das Testat. Wer mehr als 60 von 100 Punkten hat, darf in den Komm-Kurs. Wir dürfen auch als Paten lernen. Das ist eine Auszeichnung und steht im Zeugnis. Später müssen die Minustester den Stoff wiederholen. Wir anderen bekommen komplizierte Aufgaben, die wir alleine oder als Gruppe lösen dürfen. Dabei passt der Lehrer nur auf, dass wir keinen Blödsinn machen. Mehr darf er nicht. Und Zeugnisse schreiben natürlich.“
„Minustester sind die, die den Test nicht bestanden haben?“
„Ja.“
„Und wen meinst du mit den Füchsen?“
„Na, so nennen wir die Allerbesten, die in den S-Gruppen. Sie gehören weiter zu unserer Klasse, haben Patenschaften und werden auch manchmal ausgetauscht. Mich wollten sie hoch tauschen, da kamt ihr. Ich bin lieber Beste in meiner Kernklasse als irgendein Fuchs.“
Nun drehte ich mich doch zu Nuk auf die Seite. Sie drückte ihren Kopf an meine Brüste. Anscheinend war sie jetzt eingeschlafen. Meine rechte Hand lag auf ihrem Rücken. Merkwürdig. Sie hätte mein Kind sein können. Oder war mein verjüngter Körper die Chance, später noch Kinder zu bekommen? Die Männer hier waren bestimmt von keinen Mücken gestochen. Sicher würde mir Nuk genau erklären, ob es in dieser Zeit Schwangerschaften und Entbindungen gab, und wie die abliefen. Aber jetzt war wichtiger, endlich zu schlafen. Ich spürte irgendwann einen sanften Stoß in den Bauch. Wahrscheinlich hatte mich Nuk da im Traum getreten. Richtig munter wurde ich nicht davon, denn das Mädchen hatte sich an mich geschmiegt, und ich fühlte mich angenehm schwanger.
Am nächsten Morgen schleppte mich Nuk zum gemeinschaftlichen Frühstück ins Café.
„Da werden die Pläne für den Tag gemacht. Da darfst du nicht fehlen."
Ich setzte mich und schon stellte mir Nuk ein Tablett an den Platz.
„Du isst deine Eier morgens weich gekocht?“
„Ja.“
„Dann ist es richtig.“
Beim Essen schmunzelten wir uns an. Satt und zufrieden lehnte ich mich zurück. Da stand Mama auf.
„Für heute möchte ich eine gemeinsame Werksbesichtigung vorschlagen. Was haltet ihr vom Komplex Speisen und Getränke?“
Ernst sprang auf, hob sie hoch, schleuderte sie herum, dankte ihr überschwänglich dafür, dass sie an ihn gedacht hatte, und begann einen Bärentanz.
„Mama, am besten leite ich da vorübergehend unsere Gruppe. Anna braucht etwas Erholung und für das Thema fehlt ihr wie den meisten anderen das nötige Verständnis.“
Dabei stellte er unsere lachende Herbergsmutter sacht wieder auf den Boden und warf mir einen bettelnden Hundeblick zu. Er hatte Recht. Manchmal nervte es mich, nicht nur für mich selbst, sondern für die anderen mit zu sprechen, und ständig ein interessiertes Gesicht zu machen, wenn wir etwas erklärt bekamen. Und alles, was mit Essen zu tun hatte, interessierte Ernst wirklich mehr als mich. Warum sollte ich nicht einmal einfach einmal nur Anna sein? Irgendeine Anna, so wie es vielleicht auch in dieser Zeit Annas gab?