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27. September 2011 2 27 /09 /September /2011 07:59
 

Wir hatten ein Pferd. Jandl fand es lustig, auf den Packen zu thronen und den anderen Karren vor und hinter uns zu winken. Ich mußte mich wieder um alles kümmern. Eßbares eintauschen zum Beispiel. Bald war der Karren merklich leichter. Wenn ich wenigstens gewußt hätte, was mit Vati los war! Der letzte Brief war aus Stettin gekommen. Eine Verlegung nach Wismar stünde bevor. Dabei war es verboten, Orte in Briefen zu nennen.

Unser Ziel war Bayern. Oder Hessen. Jedenfalls weit genug weg von den Russen. Warum mußte Jandl ausgerechnet jetzt Fieber und Durchfall bekommen? Wie sollte ich Wäsche waschen im Treck? Bald stank es fürchterlich auf unserem Karren. Woher Wasser bekommen? Nachrichten? Wie lange der Treck unterwegs sein würde? Bis wohin? Alles ungewiß.

In diesem Zustand kamen wir an einem Rangierbahnhof vorbei. Das war meine Chance. Reichsbahner mußten sich doch helfen ...

Erstmal fließendes Wasser. Zwar nur kalt, aber zum Spülen genug. Dann zwei Bahner. Ob sie eine Nachricht weiterleiten können nach Wismar? Wir seien auf der Flucht. Wahrscheinlich nach Bayern. Es gehe uns gut. Zumindest im Moment noch ... „Nach Wismar?! Der Zug da fährt direkt dorthin. Er ist der letzte. Soldaten. Nachschub für die Front.„

Front? In Wismar? Egal. Könnten Sie die Nachricht ...?„

Fahren Sie einfach mit! Hinten, auf dem Güterwaggon. Ist doch egal, wo Sie um Ihren Mann zittern.„

Ich muß aber zu den anderen. Sehen Sie?„

Ich habe den Männern die feuchten, angebräunten Spülwindeln hingehalten. Die haben gelacht.

Nein, der Zug fährt sofort. Mit Ihnen, ohne Sie. Es ist bestimmt der letzte in diese Richtung. Springen Sie schon! Wenn Ihr Mann dort wartet?„

Die Lok pfiff. Ein Beamter hob seine Kelle, langsam gewann der Zug Fahrt.

Bayern, Wismar - ein Fehler konnte beides sein.

Was ich weiter gedacht habe, ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich gar nichts. Ich sprang einfach. Die feuchten Kackfetzen in der Hand. Ohne Familie. Ohne Geld. Ohne Papiere.

Der Treck ist weitergezogen. Nach Bayern. Mit meinem Familienkarren. Mit der Angst um mich. Mit einem Kind, einem stinkenden, um dessen Hintern ich mich kümmern sollte.

Ohne diesen Sprung wäret ihr in Bayern zur Welt gekommen oder vielleicht auch gar nicht.

... Warum verstehst du das nicht? Wir wären mit Tante Gerda zusammengeblieben. Wir hätten unsere Entschädigung bekommen, weil man uns doch vertrieben hat ... Nein, dann hätten wir sie selbst bekommen. Nicht als Freßpakete von der Tante. So aber ... Vielleicht ist der Zug tatsächlich in Wismar angekommen. Ich weiß nur, daß sie mich vorher in Schwerin rausgeworfen haben. Zum Arzt! Ich würde blind.

Was weiß ich, wie lange ich die Bindehautentzündung schon mit mir herumgeschleppt hatte. Als ich die Verantwortung für die anderen los war, schlug sie zu. Meine Augen waren total verklebt.

Wie geht es Ihnen?

Eine Frau in Schwesterntracht beugte sich über mich.

Hier ist das Bahnhofshospital. Sie haben seit vorgestern Morgen geschlafen.

Sie reinigte mir mit einem Wattebausch die Augen.

Ich konnte wieder sehen. Das sei ein Wunder, bestätigte mir die Schwester, so, wie sie mich abgegeben hätten.

Dann kam der Schock.

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