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6. Juli 2008 7 06 /07 /Juli /2008 04:52
Moru, der kleine Elefant (2)
Gurst, Hung


"Sie immer Gras essen, kein Geld... Und sie arbeiten im Wald sehr fleißig"

 

"Und die Babys, was fressen die da? Können sie auch arbeiten?" fragte der Junge mit der Bomberjacke.

 

"Nein, Moru nicht arbeiten. Moru warten auf mich. Ich komme zurück und lehren Moru Disziplin, dann Moru gut arbeiten."

 

"Viele von euch studieren Elefanten hier?" wollte einer wissen.

 

"Nein, nur zwei...", log ich. Persönlich hatte ich noch keinen Nepalesen in der DDR gesehen.

 

"Es sind relativ wenig hier, bei uns", sagte der Alte.

 

"Aber was anderes, wie kriegen die Elefanten ihre Kinder?" fragte einer.

 

"Elefanten sind sehr klug, nicht Krieg mit ihrer Kinder..." stellte ich mich dumm an.

 

"Nein, er meint nicht Krieg machen...Sondern lieben, wie Elefanten Liebe machen?" korrigerte der Jüngere.

 

"Ah, sehr interessante Frage...", sagte ich nachdenklich, um Zeit zu gewinnen, denn ich selbst wußte auch keine Antwort. Ich hatte Elefanten auch nur im Zoo gesehen. Nach ein paar Sekunden hatte ich die Antwort gefunden und fuhr fort: "Die Elefanten immer schämen, nicht zeigen, wie sie bumbum machen...Aber alte Menschen erzählen, Elefantenmann und Elefantenfrau suchen ein Gefälle. Die Elefantenfrau stehen unten, und lehnen die Schultern an einen großen Baum und Elefantenmann laufen schnell von oben und springen auf seine Frau...Und wenn der ganzen Wald wackeln, dann weiß man, daß die Elefanten bumbum machen..." Ich schämte mich, die Elefanten so blöd darzustellen, aber ich hatte gar keine Wahl. Ich hatte doch angegeben, ich studiere Elefant und außerdem wollte ich nicht rausgeworfen werden...

 

"Ich habe auch gehört, sie machen es im Wasser...", sagte einer.

 

"Ja, auch, aber bei uns auch im Wald... Und anders" sagte ich.

 

"Na, klar", stimmte der Alte zu, "jeder macht das anders. Du machst es auch nicht wie ein Neger oder?"

 

Sie lachten und unterhielten sich mit mir, erzählten mir von ihren Haustieren, von Hund, Katze, Goldfisch und der einer hatte einen brasilianischen Papagei. Ich versuchte mich an die Geschichten über Elefanten, die ich als Kind gelesen hatte, zu erinnern. Auch von den Hängebauchschweinen erzählte ich...

 

Langsam hielt der Zug an. Endlich war ich in Leipzig angekommen.

 

"Tschüß", sagten sie. Sie fuhren weiter.

 

"Wiedersehen, ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg in einem neuen Deutschland...", sagte ich, und dabei hatte ich vergessen, daß ich gebrochen Deutsch hätte sprechen sollen. Aber es fiel ihnen nicht auf.

 

"Viele Grüße an Moru, wenn du zu Hause bist" sagte der Jüngere mitder Bomberjacke.

 

"Moru? " Ich war erschrocken, hatte beinah vergessen, was Moru heißen sollte. "Ja, mein Elefantenjunge...Ja Moru, der hat mir das Leben gerettet..."

 

Ich sah, wie ein Zug von dem Gleis nebenan langsam abfuhr und hörte junge Menschen singen und rufen: " Deutschland, Deutschland...". Wahrscheinlich spielte an diesem Tag die Oberliga. Aber wohin der Zug fuhr, wußte ich nicht.

  Ich dachte nur noch an Moru, den kleinen Elefanten...



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Ludmilla Khodai: Liebesabenteuer

auf Der Friedrichshainer Autorenkreis (FAK)


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Utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (11)


Todeserwachen

Kaum hatte sich Rahman an seine neue Umgebung gewöhnt, wurde er Spitze – und nicht nur im Empfangen von Schmachtblicken der Mädchen. Bald schon wollten die meisten bei Klassenarbeiten in seiner Nähe sitzen, um abzuschreiben oder seine Lösungszettel zugeschoben zu bekommen. Warum sollte er dann nicht Medizin studieren? Klar, damit kostete er seine Familie viel Geld und er zog aus der gerade gewonnenen Heimat schon wieder weg nach Berlin, aber er besänftigte seine Eltern. Er versprach ihnen, sich nach dem Studium um eine Stelle an der mecklenburgischen Landesklinik zu bewerben, und das war doch eine Aussicht! Der Vater sah seinen Sohn schon als künftigen Chefarzt. Da machte es auch nichts, als die erste Bewerbung trotz eines hervorragenden Staatsexamens scheiterte. Rahman blieb vorerst in seiner Studentenbude in Berlin, um seinen Doktor der Medizin zu machen – das hoffte zumindest die Familie. 

Von Rahmans Versuchen mit seiner Kugel ahnten sie natürlich nichts. Er hatte sie während des Studiums zum Beispiel einem künftigen Zahnarzt gezeigt. Man müsse eben, entschied dieser überzeugt und im Vollbesitz eines nicht unerheblichen Alkoholpegels, mittels eines Zahnbohrers ein Loch in die Oberfläche des merkwürdigen Objekts bohren. Unglücklicherweise machten sich beide sofort ans Werk. Die Folge dieses wissenschaftlichen Experiments war niederschmetternd. Der Bohrer zerbrach wie die Freundschaft der beiden Studenten, als sich abzeichnete, wie hoch der nächtliche Schaden war. Dabei hatten sie eines trotzdem nicht geschafft: Die Oberfläche der Kugel war nicht einmal angeritzt. Der andere Student ging Rahman von da an aus dem Weg.

Rahman entschied für sich, von nun an jedes wissenschaftliche Interesse an diesem nichtdentalen Medium geheim zu halten, war die ganze Angelegenheit doch dadurch ins Rollen gekommen, dass er erzählt hatte, wie er kurz zuvor ähnlich den Versuchen auf Näswerder, mit dem Hammer auf die Kugel eingedroschen hatte. Immerhin sei er wohl jetzt stärker und geschickter als damals, hatte er angesichts der gemeinschaftlich geleerten Flaschen erklärt. Und dass er abgerutscht war, ohne Wirkung zu erzielen. Die unscheinbar graue Kugel schien ihn verspotten zu wollen. Was er auch tat, er erreichte nichts. Sollte er vielleicht aufs Dach steigen, um sie aufs Pflaster herunterfallen zu lassen? Wahrscheinlich zertrümmerte er damit eher ein Stück Straße als den Kern der Kugel freizulegen. Das hatte dann seinen Kommilitonen provoziert, dem Ding mal richtig auf den Zahn zu fühlen.

Nie wieder so einen Mist!

Der Vorsatz hielt allerdings nicht lange. Die Wendung brachte eine sich anbahnende Freundschaft mit einer Röntgenassistentin. Dass er nicht früher auf die Idee gekommen war! Warum nicht erst einmal nachsehen, ob etwas drin war in dem Ding?

„Ja, es ist verrückt. Aber das Ding beschäftigt mich schon seit meiner Kinderzeit. Es schadet doch nichts. Du durchleuchtest die Kugel in einer Pause. Ich tue, als wäre ich Patient und verschwinde sofort wieder.“

Sie konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen. Sie freute sich ja, dass er noch etwas verrückter schien als die Männer, die sie bisher kennen gelernt hatte, aber sie war noch in der Ausbildung. Also geschah alles zwischendurch. Schnell ein paar Röntgenbilder, für die eigentlich Rahman in die Kabine gegangen war … „Entschuldige, ich hab ein paar Bilder mehr gemacht. Das macht doch wohl nichts bei so einer toten Kugel, oder?“ Das war natürlich eine naive Frage. Aber Rahmen ahnte das nicht. Er hatte längst ein anderes Problem als die technische Abrechnung der Röntgenuntersuchungen: Als er, spitzbübisch feixend, die Kugel in seinem Rucksack hatte verschwinden lassen, schien sie bläulich zu schimmern. Und Rahman war absolut nüchtern.

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5. Juli 2008 6 05 /07 /Juli /2008 04:51

Moru, der kleine Elefant
Gurst, Hung

  

Abermals haben die Elefanten mich gerettet. Ich meine, indirekt haben sie mich gerettet...

 

Es war an einem Sonntag, ein paar Tage nach der Öffnung der Grenze zwischen West- und Ostberlin, ich fuhr von Berlin nach Leipzig. Vorher hatte ich mir die Mauer angeschaut. Mit gemischten Gefühlen saß ich allein in einem Abteil und dachte über das, was in Deutschland gerade passierte, nach. Ich verstand sehr gut, daß die Deutschen sich freuten. Auch ich hatte dieses enthusiastische Gefühl gehabt, als mein Land vereinigt wurde... Und doch hatte ich schon damals ein wenig Angst gehabt und hatte mich oft gefragt, wie wir mit unseren Brüdern und Schwestern aus dem kommunistischen Norden zusammenleben würden, nach so vielen getrennten Jahren...

 

Aber was jetzt hier in Deutschland passierte, war anders als damals bei uns: Hier hatte die Demokratie gesiegt. Und wie die meisten Ostdeutschen, liebe ich die Demokratie...

 

Während ich da allein die Demokratie feierte, öffnete sich plötzlich die Tür. Vier Männer standen vor mir. Ohne mich zu fragen, ob noch frei wäre- als brauchten sie das nicht, denn hier ist doch ihr Zuhause...Ohne einen Guten Tag!- setzten sie sich und fingen an zu rauchen.

 

Ihrem Aussehen nach vermutete ich, sie seien Westdeutsche. Sie waren sehr gut gekleidet. Aber dann mußte ich an ihrer Haltung und ihrer Sprache feststellen, daß sie Sachsen waren. Weil ich die Demokratie liebe, liebte ich auch die Sachsen, denn dort hatten die Menschen, in Leipzig, für die Demokratie gekämpft. Die Männer wurden mir irgendwie doch sympathisch und ich bewunderte sie. Ich lächelte.

 

"Was grinst der denn so?" fragte einer der Männer.

 

"Guten Tag", sagte ich. Ich wollte sie ansprechen und die Freude mit ihnen teilen. Es freute jeden zu sehen, wie die Ostdeutschen sich so frei im anderen Teil ihres Vaterlandes bewegen könnten. Ja, sie hatten die Freiheit gewonnen...

 

"Wenn der mich weiter so anglotzt, schmeiße ich ihn gleich raus", sagte der junge Mann in Bomberjacke.

 

Oh Gott, ich habe einen Fehler gemacht! Ich hätte nicht lächeln sollen.

 

"Eh, Fidschi, was machst du bei uns in Deutschland?" Damit meinten sie mich, denn die meisten Ostdeutschen glauben, alle Asiaten kommen aus der Fidschiinsel, und wissen nicht einmal, daß die Indianer doch aus Asien kommen und nicht umgekehrt.

 

"Ich studiere hier in der DDR..."

 

"Du, studieren? Na was denn? West- Geld vielleicht?"

 

Noch nie zuvor hatte man mir so eine schwierige Frage gestellt...Ich mußte sehr lange überlegen. Wäre ich ehrlich gewesen und hätte gesagt, daß ich Germanistik in Leipzig studierte, wäre es zu arrogant und zu intellektuell gewesen und das hätte als eine neue Provokation aufgefaßt werden können. Da sah ich plötzlich das Bild in dem Abteil, ein Werbebild von Kitekat.. Ja warum war ich nicht sofort darauf gekommen? Die Deutschen sind doch wegen ihrer Tierliebe in der ganzen Welt berühmt.

 

"Ich im Zoo studieren...Elefanten", sagte ich schnell. Ich wußte nicht, warum ich die Elefanten gewählt hatte, ich hätte auch Schäferhunde oder Schwäne studieren können...

 

"Was? Elefanten? Diese Riesen? Ach was", sagte der Ältere von den vieren, der eine Krawatte mit der Farben schwarz- rot- gold trug, "wo kommst du her? Aus Indien oder Afrika?"

 

"Ich aus ...Nepal...Weit", log ich. Ich konnte nicht anders. Ich liebe zwar meine Heimat, aber bei mir zu Hause gibt es ja zu wenig Elefanten. Sind wegen des Krieges fast ausgestorben.

 

"Wo ist das?"

 

"Himalaya...Große Berg von ganzen Welt...Mein Opa immer die Europäer den Weg zu Himalaya zeigen...Und sie meinem Opa Geld geben...Und ich dann studieren..."

 

"Nach der Währungsunion möchte ich auch mal hin. Ich will auch mal hochklettern auf dem Himalaya." sagte der eine.

 

"Warum studierst du Elefanten? Gibt es sie nicht bei euch?" fragte der Jüngere.

 

"Oh, bei uns viele Elefanten...Ich habe fünf, mein Opa haben neun... Aber meine Elefanten sehr lieb. Ich habe Mama Elefant und Papa Elefant und drei Elefantenbaby...Doko, Karu und Moru und Moru zwei Jahre alt, mein Darling..."

 

"Aber, warum studierst du hier bei uns in Deutschland Elefanten, wenn es bei euch so viele gibt?"

 

"Elefant im Zoo sehr gut Disziplin...Ich Disziplin für Elefant studieren."

 

"Siehst du, überall wird unsere Disziplin hochgeschätzt...Selbst im Urwald", sagte der Alte mit der Krawatte und wandte sich neugierig zu mir: "Aber sag mal Kleiner, was fressen die Elefanten so, ist das nicht zu teuer, einen Elefanten zu ernähren?"

(wird fortgesetzt)



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Lehren von Ludmilla Khodai

auf den Lyrik-Seiten von http://milla-in-australia.over-blog.com/



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   Utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (10)

Das Nest überwinterte. Nichts schien sich im nächsten Jahr verändert zu haben. Was also sollte dieser dumme Scherz? Wer hatte nur von dieser Sache Wind bekommen?

… „So nun ist genug. Ihr habt euern Spaß gehabt, und nun lasst mich in Ruhe.“

Doch die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung blieb dabei. Jens solle sofort kommen. Seine Töchter Sina und Leonie seien von Hornissen angefallen worden. Sie schwebten in Lebensgefahr. Auch seine Frau Janine habe es erwischt. Sie habe versucht, die Mädchen aus dem wütenden Schwarm zu befreien.

Noch immer wehrte sich jede Pore an Jens, etwas von dieser Vorstellung aufzunehmen. Dann aber raste er los zum Krankenhaus.

Es war ernst. Wie schwer fiel es ihm, nicht auszurufen, „Wie seht ihr denn aus?“ Aber sein Gesicht sprach sicher Bände. Jens blieb bis zum Abend. Fuhr absolut verunsichert aufs Grundstück. Fürchtete sich vor dem Schlafengehen! Die entstellten Gesichter der Mädchen und Janines, ihre aufgequollenen Lippen … allergische Reaktion … Das würde Träume geben! Albträume dazu zu sagen, wäre die blanke Untertreibung. Dachte Jens. Erwartete Jens.

Doch was geschah? Entsetzt bemerkte er schon beim Einschlafen, dass er die Hornissen mehr als seine Familie vermisste. Dass ihn die Vorstellung plagte, dass die Feuerwehr das Nest entfernt hatte. War er krank?

Nach einer Woche waren Janine, Sina und Leonie wieder daheim. Jens freute sich natürlich darüber. Doch wo war dieses Glücksgefühl geblieben, das im letzten Jahr von den Hornissen ausgegangen war? Warum waren dieselben erst so harmlosen Wesen plötzlich wie Feinde über seine Familie hergefallen? Wie hatte das nur passieren können? Was war inzwischen anders? Die letzte Frage beschäftigte Jens am meisten. Er ging alle Möglichkeiten durch. Es war absolut alles beim Alten. Das Haus, die Umgebung, das Wetter, die Kinder ... Halt! „Sagt mal, benutzt ihr neuerdings ein Parfüm oder Deo oder so? So was reizt Insekten manchmal.“

„Aber Papa, wir doch nicht!“

Also auch das nicht. Eine lange Liste von unglaublichen und weniger unglaublichen Möglichkeiten. Eine nach der anderen strich Jens. Zuletzt blieb nur eine übrig: Er hatte im Winter den Keller aufgeräumt, in dessen Mauerspalt das Hornissennest verborgen gewesen war. Aber was sollte das eine mit dem anderen zu tun haben? Er war doch nicht an das Nest herangekommen. Ein seltsamer Fall in der Schublade „ungelöst“

 

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4. Juli 2008 5 04 /07 /Juli /2008 00:00

  

Sudoku
Gunda Jaron


Du sagst,
ich bin für dich
wie ein Sudoku:

Immer,
wenn du meinst,
mich fast entschlüsselt zu haben,
tauchen im letzten Kästchen
zwei gleiche Ziffern auf.

Du beginnst zu radieren,
spitzt den Bleistift erneut
und fängst von vorn an.

Eigentlich,
sagst du,
magst du lieber Rätsel,
die du mit dem Kugelschreiber lösen kannst.

Aber
dann hättest du mich
vielleicht längst beiseite gelegt...



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Anthologie zur Friedenslesung 2007
"Das Leben riecht nach Meer":
H. Fuchs-Bardun, Apocalypso

auf Gedicht des Tages


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Utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (9)

An den folgenden Tagen fuhr er stets beschwingt nach Hause. Im Auto trällerte er vor sich hin ... egal, worüber er sich im Büro geärgert haben mochte. Immer neu begeisterte Jens das Gefühl, er würde bald wieder bei seiner Familie sein. Darauf konnte er sich doch freuen, versuchte er seine inneren Zweifel zu beruhigen.

Bei seiner Familie? Von wegen! Du freust dich auf irgendwelche Hornissen! Wie abartig! Denk da bloß nicht weiter drüber nach. Sonst … Nein, nein, nein, mit den Hornies hängt meine Stimmung überhaupt nicht zusammen.

Hing sie natürlich doch, und Jens wusste das. Stand nicht seine ganze Familie unter deren Einfluss? Befanden sie sich alle in Gefahr? … Quatsch! Worin sollte die denn bestehen? Er musste das herausbekommen, trotz Trugbildereien und Kopfschmerz. Im selben Moment kam Jens schon der nächste Gedanke: Wenn er die anderen und sich selbst von den Hornissen befreite, ginge es ihnen schlechter als jetzt; ja, sollte er sich jemandem anvertrauen, käme er so schnell nicht mehr runter von der Psychiatercouch. Wem war denn damit geholfen? Es war doch nichts Schlimmes passiert. Jens nahm sich vor, alles zu beobachten und alles Ungewöhnliche aufzuschreiben. So, redete er sich ein, brauchte er das Angenehme nicht aufzugeben und blieb Herr der Lage. Aber was war überhaupt ungewöhnlich?

 

An einem Sonnabend feierten sie Erntefest im Dorf. Abends hatten Jens und Janine ihre Töchter ins Bett gebracht. Am Sonntagmorgen kamen sie gegen vier Uhr beschwipst zurück. Es war schon hell, aber noch kühl.

 „So, jetzt werde ich das Nest ausräuchern“, rief Jens, berauscht vom Alkohol. Nichts war da von dem, was sonst von den Hornissen ausging. Jens fühlte sich ihnen überlegen. Vergeblich versuchte Janine, ihn ins Haus zu zerren. „Lass mich“, schüttelte er sie ab. „Diese Viecher! Jetzt sind sie fällig.“

 „Lass doch, Jens!“

Doch, nein. Sein Jagdfieber war nicht zu besänftigen. „Am liebsten hausen Hornissen in Mauervorsprüngen“, erklärte er im Brustton der Überzeugung. „Da kannst du Martin fragen. Der hat schon mal Hornissen gehabt.“ Nur mit großer Mühe gelang es ihm, nicht zu lallen. Sorgsam suchte er mit Augen und Fingerspitzen die Wand seines Hauses zum Hof und ihre Umgebung ab. Und wirklich! „Komm her! Na, siehst du!“ Diesmal schliefen die Hornissen, und Jens zeigte Janine das Nest neben dem Kellerfenster. „Das pack ich mit dem Kescher und schmeiß es in den Quadder.“

Janine verkniff sich ihren Kommentar. Allein die Vorstellung, wie Jens das Nest aus der Mauerlücke in den Kescher bekommen wollte, überforderte ihr Vorstellungsvermögen … und seines wahrscheinlich auch. Es gelang Janine, Jens vom Keller weg in den Korridor zu ziehen. In der Schlafzimmertür hatte er sein Vorhaben längst vergessen.

Halbwegs ausgeschlafen sah er zur Mittagsstunde in den Hornissen wieder liebenswerte Insekten. Wann immer sie von nun an in seiner Nähe schwärmten, lösten sie Hochstimmungen aus. Jens konnte sich nicht von ihnen losreißen. Warum auch, dachte er, wenn er denn einmal dachte: Mindestens auf Leo und Sina haben sie einen positiven Einfluss. Die beiden haben sich in der ganzen Zeit kein einziges Mal mehr gestritten, und in der Schule sind sie nun die besten. Durfte er das zerstören? Die Ausreden summten in Jens´ Kopf wie ein Hornissenschwarm. 

           
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3. Juli 2008 4 03 /07 /Juli /2008 04:29
Hanoier Traum

 

Trotzte ich

dem Reißzahn der Zeit –

steinern,

eine Säule auf dem Rücken,

diesen Schildkröten gleich,

ich schenkte dir,

Dichter,

Taifunaugen,

deine Worte darin zu sehen.

Griffe deine Hände,

gemeinsam

gemächlichen Schritts

das neue Ufer zu

erschreiben.

Gelassen trügen wir

das heutige Wissen,

das uns genarbt

nach neunundneunzig Stürzen.

Wir kämen an

bei uns und

über Wunden

wüchse Haut.

Slov ant Gali

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R.Baumgärtl,
neue feinde braucht das land

in der Anthologie zur Friedenslesung 2007
"Das Leben riecht nach Meer" :

in Gedicht des Tages

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utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (8)

 

Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er reglos in seiner vorgebeugten Stellung. Da passierte es zum ersten Mal: Ausgerechnet in diesem Moment, als die Angst um seine Kinder ihn trieb, spürte er sie, diese unvermittelt einsetzende, unerklärlich absurde Freude. Am liebsten hätte er ein Lied gesummt. Er schüttelte sich. So was?! Noch überwog der Wunsch, Sina und Leonie zu schützen. Jens schlug die Tür zu, lief um den Wagen herum, kletterte auf den Fahrersitz, schloss die vordere Tür und wollte vom Hof fahren. Überdachte schon die nächsten Schritte: Wenn hier so viele Hornissen herumschwirrten, war vielleicht ihr Nest nicht weit. Er musste sich sofort darum kümmern, die Feuerwehr rufen…

Ohne ersichtlichen Grund waren plötzlich alle Hast und Unruhe wie weggeweht. Als hätte es nie eine Veranlassung dazu gehabt. Jens tauchte in einen Traum ein. Richtiger: Etwas tauchte ihn in diesen Traum hinein. Da umgaben ihn lauter schwebende Wesen. Sangen und umtanzten ihn wie Elfen oder Engel, wie Phantasiegeschöpfe von unbeschreiblicher Schönheit. Lachten ihn vergnügt an. Vergeblich sagte er sich, das sah er nicht wirklich, das musste eine Halluzination sein. Überall dort, wo er jetzt schwirrende Elfchen zu erblicken glaubte, waren ihm doch eben noch Hornissen entgegengesummt. So etwas wie eine innere Stimme aber antwortete: Na und, ist das keine wunderbare Vorstellung?

Langsam griff Jens wieder nach den Armen seiner Töchter. Er zog Sina und Leonie aus dem Auto heraus. Vergaß, dass er sie eben noch hatte beschützen wollen. Nein, wunderte sich schon darüber: Wovor eigentlich beschützen? Vor diesen schwebenden Elfchen etwa? Die jetzt auch noch alle irgendwie die Gesichtszüge seiner Zwillinge angenommen hatten? Ihn als Schwarm von Sinas und Leonies umkreisten? Das ja wohl nicht!

Zwischendurch, für Sekundenbruchteile, verschwammen die Bilder. Da erkannte er im Hintergrund sein saniertes Gemäuer. Da waren es Insekten, die Lieder für ihn sangen. Aber schon war das Bild ein anderes. Seine Kinder waren überall. Schwebten mit Flügelchen um ihn herum. Wie in Trance rief Jens ihnen zu: „Wollen wir nicht ein paar Blumen für Mama pflücken?“ „Oh, ja“, antworteten die beiden, und zu dritt tanzten sie in den Garten. Oder waren es hundert? Jens sah einen ganzen Elfenreigen um sich herum. Er schnitt drei Rosen ab, die Mädchen flochten vier Butterblumenkränze. Setzten sich und ihrem Vater je eine Krone auf. Tanzten und tanzten. Und als Janine aus dem Dorf zurückkam, schmückten sie auch deren Kopf. Die wunderte sich überhaupt nicht und dutzende summender Hornissen freuten sich mit ihnen.

In der Dämmerung erzählte Jens Leonie und Sina wie immer eine Schlafgeschichte. Auch Janine hörte zu. Jens lag noch lange danach munter und lauschte in sich hinein. War nun alles in Ordnung oder nicht? Schließlich entschied er sich: Warum denn nicht? Es war alles in bester Ordnung.

Erst am nächsten Morgen, als sein E-Car automatisch den Weg zur Dienststelle in Berlin einschlug, fing er an zu grübeln. Sina, Leo, Janine, er selbst … Waren sie gestern alle total weggetreten? Was war da nur passiert? Kaum versuchte er in Gedanken den Ablauf des Abends nachzuzeichnen, begann sein Kopf zu schmerzen. Und wie! Immer wenn er begann, sich auf seine Begegnung mit den Hornissen zu konzentrieren, hätte er vor Stechen in den Schläfen brüllen mögen. Dachte er dagegen Ist ja nicht so wichtig, fühlte er sich entspannt und die Schmerzen verschwanden von einer Sekunde zur nächsten.

Jens alarmierte nicht die Feuerwehr, er sprach Janine nicht auf die Hornissen an, und er erzählte auch seinen Kollegen nichts von der Sache. Es war ja klar, was die ihm geraten hätten. Ruf die Feuerwehr und geh zum Psychiater! Und gelacht hätten sie natürlich wieder über ihn.

Vorschau für Neugierige 
PS: Bei der ersten Veröffentlichung der ersten für Abschnitte ist bedauerlicherweise das Kapitel "Vor-spiel" ganz utopisch verschwunden.
Es ist nunmehr eingefügt...

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2. Juli 2008 3 02 /07 /Juli /2008 07:47
Noah

 

Die Arche Noah

barg

angeblich

von jeder Art

ein Paar.

Was

bergen heute

Flugzeugträger?

Die Sintflut?


Slov ant Gali

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Siegfried Modrach Rückkehr

auf Der Friedrichshainer Autorenkreis (FAK)

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Utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (7)



Dies war die Lage, als sich der geplagte Vater in seinem E-Car dem Grundstück näherte. Bei ihm hatte am Nachmittag eine anstrengende Beratung stattgefunden. Nicht, dass dabei irgendetwas herausgekommen wäre. Das hatte er auch nicht erwartet. Aber jetzt erst, auf der Heimfahrt, gab Jens mutig die Antworten, die er in Gegenwart der anderen heruntergeschluckt hatte. Er ärgerte sich. Und auf der Bundesstraße ärgerte er sich darüber, dass er sich ärgerte. Das gehörte sich nicht. Gleich wäre er bei seiner Familie und sonst gar nichts. Warum sollte er Janine, vor allem aber Sina und Leonie mit seiner Laune quälen? Ob da etwas ruhige Musik half? Oder ein paar Konzentrationsübungen? 

Als Jens auf den heimatlichen Hof einbog, fühlte er sich zumindest etwas entspannter. Trotzdem hätte er sich am liebsten gleich schlafen gelegt. Vielleicht wunderte er sich deshalb nicht sofort über die Szene auf dem Hof.

Endlich stutzte er doch. Beobachtete verwirrt die unsinnigen Bewegungen von Sina und Leonie. Sie bewegten sich, als hörten sie eine fremde, irgendwie beruhigende Musik – so, wie er zuvor – und versuchten, dazu einen Tanz zu erfinden. Das hätte Jens noch durchgehen lassen können. Aber die beiden ignorierten ihn dabei einfach!    

Beim Aussteigen wandte Jens seinen Blick nicht von den Kindern ab. Rief sie nicht an, vor lauter Verwunderung. In den Ohren hatten sie wohl nichts. Nein, etwas schwirrte um sie herum. Mit dem spielten sie. Schmetterlinge? Nein, das, was die Mädchen so faszinierte, summte und war größer als Bienen oder Wespen … Hornissen, das waren Hornissen! Verdammt! Die Mädchen müssen da weg! Und zwar schnell!

Jens schaltete sofort um auf Dienst. Bei Gefahr ruhig und beherrscht handeln. Die Tiere nicht reizen. Die waren angeblich normalerweise nicht aggressiv. Aber ob die das wussten?

Jens´ Hand lag auf der offenen Autotür. Er wartete. Noch immer beachtete ihn niemand. Für einen Moment verharrte er, mit einer Gesäßecke noch auf dem Fahrersitz, mit einem Fuß schon draußen auf dem Boden. Seine Stimme kam ihm selbst fremd vor, als er rief: „Sina, Leo, wollt ihr euren Papa nicht begrüßen?“

Die Zwillinge drehten sich langsam zu ihm um. Auf ihren Gesichtern hatte irgendein wunderschöner Traum seine Spuren hinterlassen, von dem sie sich nicht so schnell lösen konnten – aber dann liefen sie plötzlich auf Jens zu, gerade so, als wäre sie eben erwacht.

Was war denn das? Der Schwarm folgte ihnen! Jens schwitzte. Gleich mussten die Kinder seine Aufregung bemerken, fragen, was los sei … Wären dann immer noch die Hornissenstacheln hinter ihnen her und die beiden bekämen einen Schreck und schrieen und schlügen um sich … nicht auszumalen!   

Normalerweise hängten sie sich zur Begrüßung sofort an seine Arme. Jens drehte sich dann so lange wie ein Kettenkarussell um die eigene Achse, bis er aufgeben musste, und Sina und Leonie brüllten dazu laut vor Vergnügen.
Jetzt packte Jens zuerst Leonie am Arm und drückte sie auf die Rückbank, bekam mit der anderen Hand Sina zu fassen, schob sie auf den Sitz neben ihre zur Seite rutschende Schwester. Ruhig bleiben, mahnte er sich immer wieder, nur ruhig bleiben. Die Kinder raus aus der Gefahr. Nicht aus der Fassung geraten! Wenigstens war noch keine Hornisse bis in den Wagen vorgedrungen. Oder hatte er nur noch keine bemerkt? 
 

 

 

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1. Juli 2008 2 01 /07 /Juli /2008 04:57
Und schriebe ich Gedichte …

 

… so sähen die aus wie ich

an einem abend verkümmert

am nächsten königlich

am morgen frisch gewaschen

gelegentlich ein gnom

vollkommen unvollkommen

dann wieder wie ein dom

pathetisch erhabene worte

mit sich selbst verspottendem sinn

dazwischen ein wenig mimose

die ich gelegentlich bin

ein eingebildeter dichter

der eingebildet nicht ist

doch im großen wie im kleinen

wahrheit und wärme vermisst.

 

Ein bisschen gutes alleine

hat mir noch niemals gereicht,

warum nur bin ich das aber

das hofft und misst und vergleicht

das mit heruntergelassenen hosen

und narbengeschmückter haut

im allerdunkelsten winkel

sich strahlende zukünfte baut

lebenserhaltende träume

bei nachtwolkenfinsterem licht

 

im regen stehend erklär ich

gedichte die schreibe ich nicht.


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einladung zum gemeinsamen eintopf
 
(aus
Gedicht des Tages)


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Utopischer Fortsetzungsroman
"Die sieben Kugeln" von Slov ant Gali (6) *


Die Hornissen

Fast zwanzig Jahre vergingen, in denen weder die inzwischen Erwachsenen mit ihren Kugeln noch die Kugeln mit den neuen Erwachsenen etwas anstellten. Richtiger: Die nun Erwachsenen bemerkten nicht, was die Kugeln mit ihnen anstellten. Das lag vor allem daran, dass sie einander nicht trafen. Also weder die Kugeln, noch die Erwachsenen.

Aus Jens, der die Kinder der Schwurgemeinschaft in so viele Kämpfe geführt hatte, war Kommissar Marder geworden. Mit seiner Halbinsel hatte er nichts mehr zu tun. Möglichst weg von Mecklenburg hatte er gewollt. Allzu weit war er allerdings nicht gekommen – nur bis Sternekop, einem Dorf in der Nähe von Berlin, und sein Häuschen erinnerte verdächtig an eine der heimatlichen Katen.

Eigentlich war er total glücklich. Schließlich war er schon früher dem Traum nachgejagt, ein großer Detektiv zu werden, knifflige Fälle zu lösen und Verbrecher zu überführen. Das war nun sein Beruf geworden. Doch wie stand es um ihn? Für die anderen Kriminalbeamten in Berlin bot er ausreichend Stoff zum Spott. Wenn man etwas an ihm „außergewöhnlich“ hätte nennen können, dann höchstens seine Behäbigkeit. Er hatte geheiratet und war kurz darauf Vater von Zwillingen geworden. Seitdem erinnerte an ihm nichts mehr daran, dass er einmal eine wehrhafte Kindergruppe angeführt hatte. Nein, niemand stand im Kreis der Kollegen dermaßen „unterm Pantoffel“ wie Jens Marder.

Den ganzen Freitag hatte er dem Revier schon sein die Welt umwälzendes Gesprächsthema aufgezwungen: die angesagte Gartenparty zum Geburtstag von Sina und Leonie. Den ganzen Montagvormittag berichtete er über deren Erfolg, während Janine, seine Frau, mit Aufräumen beschäftigt war.

Die beiden Mädchen waren gerade neun geworden und hatten anfangs sogar beim Hausputz geholfen. Erst in der Mittagshitze zog es sie über einen Trampelpfad hinunter zum Quadder. Der dank der Geräusche beim Näherkommen mit einem treffenden Namen versehene, von allen Seiten zugewachsene Teich, lud zum Baden ein. Hinter dem Garten der Marders begann ein offenes Uferstück, und es gab kaum einen sichereren Platz, an dem sich die Mädchen austoben konnten. Irgendwann unterbrach Janine ihre Putzerei. Ihr war eingefallen, dass sie unbedingt noch einiges im Dorf zu klären hatte. So bemerkte sie nicht, dass die Mädchen bald wieder auf den Hof zurückkamen. Sie ahnte es nicht einmal. Die beiden beschäftigten sich also völlig unbeobachtet.


*Folge 1-5 wurden zusammengefasst.

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1. Juli 2008 2 01 /07 /Juli /2008 04:34
Gunda Jaron: Blicke im Spiegel
Lyrik

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Gunnar Schuberth: Ausverkauf
Prosa


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Slov ant Gali, "Die sieben Kugeln" (37)
utopischer Roman, Manuskript in Fortsetzungen

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1. Juli 2008 2 01 /07 /Juli /2008 04:07

Slov ant Gali:

Wem die Zukunft gehört

 

„Mann, wie das klingt! Jetzt fehlt eigentlich nur noch, dass das schon ein alter Indianerhäuptling gesagt hat. Wie öde! Holzstäbchen... Okay, stimmt: Ein dürres allein bricht, viele zusammen nicht. Aber was verstanden die alten Indianer schon von Gentechnik? Du kannst heute bestimmt eine solche Sorte herstellen, die nicht bricht. Nein, mindestens zwei verschiedene: Die eine ist so hart, dass du sie deshalb nicht klein kriegst, die zweite, weil sie so biegsam ist und immer wieder ihre alte Form annimmt. Das hat Zukunft. Da braucht man nur die richtigen Leute für. Und du willst, die ganzen Hauptschulversager gingen mit in meine Klasse! Was soll ich da lernen? Wir kämen einfach nicht vorwärts. Was interessiert mich, ob irgend so ein Assi ne Drei oder ne Vier kriegt. Mich fragt da nachher keiner nach. Aber ob ich ne Zwei oder ne Eins auf dem Zeugnis stehen habe. Das entscheidet, ob ich nen guten Job kriege und mir nachher ne gute Schule für meine Kinder leisten kann. Damit du verstehst, dass auch ich an meine Zukunft denke. Ich mach mir da schon meine Gedanken! Der Scheiß ist doch bloß, dass die andern immer nicht mitziehen. Ich kümmer mich um meine Umwelt. Und die Assis und die Amis? Die rülpsen die Luft voll mit ihren Stickgasen. Du mit deinen Indianern... Wir wissen doch beide, wie sie geendet sind. Willst du, dass ich auch so ende? Noch kann ich mich sehen lassen mit meinen Zeugnissen, und wenn man schon guckt, auf welcher Schule ich war, dann stehen mir alle Türen offen. Solidarität??? Na, ich hoff doch, du sprichst mal mit den Personalchefs, wenns so weit ist, Wie sagst du immer? Eine Hand wäscht die andere. Da wird doch eine Hand für mich übrig sein, oder? So viel bin ich dir ja wohl noch wert, dass du mich nicht absaufen lässt. Und es ist nicht für alle genug da. Also müssen welche absaufen. Wir werden nicht dabei sein. Das entscheidet. Übrigens hat mein Laptop grad ne Grätsche gemacht. Du sponserst mir doch einen Neuen,, oder? Und sag mir jetzt nicht, wann mein nächster Geburtstag ist! Das weiß ich selber...“

Slov ant Gali


Brunhild Hauschild:

 

Solidarität 1

 

Welchen Wert hat in dieser Zeit

Zusammengehörigkeit?

Leben wir in Verbundenheit?

Spüren wir noch Brüderlichkeit?

Wer ist von Herzen hilfsbereit?

Was ist heut Verantwortlichkeit?

 

Solid heißt solide,

heißt: fest und verläßlich,

heißt:einwandfrei leben,

heißt: nehmen und geben,

Zusammenhalt leben,

füreinander weben

Kameradschaft eben.

Heißt: Gefühle zeigen,

sich trennen von Feigen,

heißt:gemeinsamer Reigen

für gemeinsame Werte

auf gemeinsamer Fährte,

heißt Humanität,

heißt Solidarität.

 

Juli 2008, Brunhild Hauschild


 

Wolfgang Reuter:

Was ist Solidarität?

 

Wenn einer, der im Gelde schwimmt,

dem Safe ein Geldpaket entnimmt,

damit sein Freund nicht untergeht –

Ist das Solidarität?

 

Wenn eine, deren Nachbarsmann

nicht sonderlich gut kochen kann,

ihm ab und zu ein Schnitzel brät –

Ist das Solidarität?

 

Wenn einer hilft mit seinem Geld,

dass Armut nachlässt in der Welt

und sich kein Bauch vor Hunger bläht –

Ist das Solidarität?

 

Wenn dir dein Kumpel anvertraut,

er habe großen Mist gebaut,

und wenn man niemand was verrät –

Ist das Solidarität?

 

Wenn einer einen Asylant,

der „keine Anerkennung“ fand,

zu Hause aufnimmt (ganz diskret!) –

Ist das Solidarität?

 

Wenn einer, der gut schwimmen kann,

ins Wasser springt und einem Mann,

der „Hilfe!“ schreit, zur Seite steht –

Ist das Solidarität?

 

Wenn Streik den Unternehmer zwingt,

dass Arbeit bald mehr Lohn einbringt,

und wenn die rote Fahne weht –

Ist das Solidarität?

 

Wenn Schüler als Mutprobe klaun

und auch mal Schwächere verhaun,

und schwörn, dass keiner drüber red't –

Ist das Solidarität?

 

Wenn irgendwo ein Bettler kniet,

der voller Scham zu Boden sieht:

Du gibst was aus Humanität –

Ist das Solidarität?

 

            *           *           *

 

Die Welt ist schlecht, das weißt du doch.

Und trotzdem lebt die Hoffnung noch,

dass sich die Menschheit einst versteht – 

durch Solidarität.

 

Denn wenn das „Wir“ das „Ich“ verdrängt,

die Welt nicht mehr am Gelde hängt ...

Falls dann die Erde sich noch dreht, –

lebt Solidarität!

 

Wolfgang Reuter, 30. 06. 2008

 

 

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1. Juli 2008 2 01 /07 /Juli /2008 03:00

Kummer I  

Aus Mittags hoher Stunde

Schlägt Flammen

Aus dem Tag ein heißer Wind.

 

Sterne

In der Not der Nacht

 

Erklingen die Fanfaren des Vergessens.

Berührt vom Wort des Morgens

Deine Stirn.

 

Kummer II

 

Kennst du die Nacht,

Wenn Schlaf dich flieht

Und nur deine Wunde glüht?

 

Kummer III

 

Ich trete in die Nacht,

In ihre Stille, ihre Messer ein.

erschienen in "Mit Blindenhund durchs Liebesland"

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1. Juli 2008 2 01 /07 /Juli /2008 02:00
Vorwort

Nun bringe ich schon durcheinander, wie oft ich die Geschichte durchgelesen habe. Es bleiben so viele Fragen. Manche werde ich nie beantworten können. Kein Zeuge hat überlebt. Manche sind mir zu philosophisch. Da bin ich bestimmt nicht die Richtige für. Zum Beispiel, wann alles angefangen hat. Mir ist nur eines klar: Das war lange, bevor ich ahnen konnte, in ein derart verschrobenes Abenteuer hineinzugeraten, ja sogar lange bevor ein einziger Mensch an solche Katastrophen gedacht hätte. Aber sollte mir jemand erklären wollen, ich müsste noch weiter zurückgehen als bis zur Kinderzeit von unserm Kommissar, dann geb ich auf. Ach ja: Also nicht, dass jemand denkt, ich hätte was gegen Ausländer. Jedem Deutschen hätte das mit der Kugel auch passieren können, aber … Nein, ich fang lieber an.

An der Spitze der Halbinsel Näswerder hätte einstmals ein Stadion entstehen sollen. Schon damals wäre es zwar fast zu spät gewesen, aber die sich für vernünftig haltenden Bewohnern sicherten sich einige ruhige Erdumdrehungen mehr. Man gab die Idee letztlich wegen des Grundwassers auf. So verwilderte alles wieder und es blieb im Boden, was dort nicht hingehörte. Die Menschen aus der Stadt errichteten weiter südlich das Neubaugebiet Großer Trooch. Eine autobahnähnliche Straße verband es mit den Bürgerhäusern des Stadtzentrums. Auf die Halbinsel Näswerder kam man nur noch über Brücken. Sie hatte sich in eine echte Insel verwandelt.

Hätte jene Straße gewusst, wie sehr sie einmal die Welt, wenigstens Europa oder Deutschland, was ja fast dasselbe zu sein scheint, unbedingt aber Großberlin gefährden würde, sie hätte von sich aus, ganz freiwillig, auf ihre Existenz verzichtet oder wenn sie schon hätte sein müssen, dann als Umgehungsstraße mit anderem Verlauf. So aber schnitt sie die Entwicklung Näswerders vom restlichen Mecklenburg ab, was umso schrecklicher war, da eben dieses Mecklenburg sowieso schon mindestens fünfzig Jahre nach der normalen Welt an jedem Boxenstopp ankam. Die Leute wollten das nicht anders. Sie duldeten alte bäuerliche Katen neben modernen Häusern im nachgemachten Friesenstil und welchen ohne jeden Stil – Hauptsache man ließ sie in Ruhe.

Die Zeiten änderten sich trotzdem. Irgendwann wollte sogar jemand, den man schon von fern als Fremden erkannte, richtiger Näswerderaner werden. Seine Frau, eine von Näswerder, hatte ihm zwar beigebracht Da brögsst nich zu sstammeln und solche Sachen zu sagen – und er gab sich auch sonst große Mühe, wie ein Einheimischer zu erscheinen. Zum Beispiel hatte er entgegen seinen Traditionen von seiner Frau den Familiennamen Parchmann angenommen. Letztlich half es ihm doch nicht. Er blieb ein Fremder. Den gemeinsamen Sohn traf das am härtesten. Ihn hatten die beiden aus der burmesischen Heimat seines Vaters mitgebracht. Da konnten sie ihm den fremd klingenden Vornamen Rahman nicht mehr wieder wegnehmen. Das wäre aber das Mindeste gewesen, um in der neuen Schule dazuzugehören.

Die Kinder waren nämlich noch ein bisschen krasser als ihre Eltern, und sie hatten ein eigenes Problem. Ihre Zahl auf Näswerder hatte vor langer Zeit schon nicht mehr für eine eigene Schule ausgereicht. Ein fernes Amt entschied, dass es in der Brechtschule auf dem Neubau-Trooch genug Platz für sie gäbe. Plötzlich wurden die wenigen Näswerder-Kinder in die dortigen Klassen umgeschult. Vielleicht führten sich die ersten Dorfkinder in ihren Anfangstagen an der neuen Schule wirklich komisch auf. Wer konnte das später noch überprüfen? Sicher war nur, dass die Troocher endlich jemanden gefunden hatten, an dem sie sich tagtäglich austoben konnten, Außenseiter zum Hänseln und Prügeln, wann immer ihnen danach war…

1. Teil: Stochern im Nebel

Ein Vor-Spiel

Zu der Zeit, als die Parchmanns sich ansiedelten und ihren Rahman in die Brechtschule einschulten, war es für die Kinder des Troochs feste Gewohnheit, fast täglich ein paar Näswerderaner zu verprügeln. Jens, der den längsten Weg bis zur Straßenbahnstation Näswerder laufen musste, hatte sich deswegen zu Hause beschwert. Warum traf das immer dieselben? Er war bei seinem Vater auf wenig Verständnis gestoßen. „Was du nur willst? Bei uns war das genauso. Ist aus mir ein richtiger Mann geworden? Ja oder ja? Du bist nun einmal ein echtes Näswerderaner. Schon dein Großvater hat sich gegen die Troocher wehren müssen, später ich, jetzt du. Das Verlieren ist schlimm, ich weiß. Aber es hat auch Vorteile: Ihr lernt zusammenzuhalten. Lasst euch nicht unterkriegen, kämpft! Verliert ihr hundert Mal … das hunderterste Mal, das erste Mal, wo ihr gewinnt, das ist das entscheidende. Danach ist Ruhe, glaub mir.“

Was sollte Jens machen? Er sammelte die Näswerderaner Tag für Tag zu heroischen Abwehrschlachten. Aber selbst zusammen mit den Mädchen konnten sie ihre zahlenmäßige Unterlegenheit nicht überwinden. Immer wieder landeten sie im Dreck. Wie oft hoffte Jens, die hundert zu verlierenden Gefechte endlich hinter sich zu haben, aber es ging immer weiter.

Da tauchte jener Rahman auf. Nein, ein Näswerderaner konnte der nicht sein. Der war anders. Der gehörte nicht dazu. Der war ein Fremder unter ihnen. So, wie sie Fremde auf dem Trooch, und obwohl er ihr Schicksal in der Trooch-Schule teilte.

Aber auch Rahman war stur. Er ließ sich verprügeln, ohne einen Laut von sich zu geben. Bis er es eines Nachmittags dann doch nicht mehr aushielt. Warum sollte er nicht zu ihnen gehören, zu diesen tollen Näsies? Noch dazu, wo er glaubte, etwas für die anderen Interessantes zu besitzen?

Er stieg also zusammen mit sechs Näswerderkindern aus dem Schulbus aus, trennte sich aber an jenem schicksalsschweren Tag nicht sofort von ihnen, sondern rief: „Wartet doch mal!“

Drei Jungen und drei Mädchen sahen sich abwartend um. Mit ernstem, beinahe feierlichem Gesicht erklärte Rahman: „Wenn ihr wollt, dann zeige ich euch Wundersteine, die ich auf unserer Baustelle entdeckt habe.“

Das war zu viel! „Wundersteine, son Quatsch!“ Jens tippte sich an die Stirn.

„Du brauchst ja nicht mitzukommen“, verteidigte sich Rahman trotzig. „Aber wetten: Wenn du die erlebt hast, hebst du voll ab. Ganz starke Dinger, sag ich dir. Die musst du einfach gesehen haben. Ehrlich!“

„Du nervst, Junge.“ Hagen musterte ihn voll Verachtung. „Wenn du uns verarschst, dann wirst sehen: Die nächste Woche kannst du nicht ohne Kissen auf ´m Stuhl sitzen.“

„Auf einmal Arschvoll mehr oder weniger kommt es nicht mehr an. Krieg ich sowieso alle Tage“, antwortete Rahman, und zumindest mit der letzten Behauptung hatte er Recht.

„Du nimmst den Mund ziemlich voll.“ Hardy war einen Schritt näher gekommen.

„Ich beweise es euch. Kommt heute um sieben zu meiner Hütte. Ihr werdet staunen.“

Die Chance, etwas Bestaunenswertes zu sehen, konnte ein echter Näsie sich nicht entgehen lassen. Als es Abend wurde, schlichen die sechs also zu dem katenähnlichen Neubau der Parchmanns. Es dämmerte. Die Silhouetten der Häuser verwandelten sich in Scherenschnitte. Vom Abendwind wurde der faulige Geruch alter Komposthaufen zum Anger getrieben. Irgendwo kläfften wütende Köter. Gelegentlich tauchte ein Schatten über den Bürgersteigen der Dorfstraße auf, verschwand aber sofort wieder. Mit einem Wort: Ein wenig Gänsehaut hatten die jungen Helden schon, bevor es überhaupt losging.

Rahman erwartete sie an der Pforte zum Vorgarten. Er winkte, drückte den rechten Zeigefinger auf den Mund und sah sich unsicher um. „Ist euch auch niemand gefolgt? Ihr habt doch keinem verraten, wo ihr hin seid? Das darf nicht rauskommen.“

„Spinner! Mach dir nich ins Hemd wegen dein Hokuspokus.“ Hagen schüttelte den Kopf.

In einer Ecke des Grundstücks stand Rahmans Hütte. Die übrigen Kinder waren verunsichert. Auf Parchmanns Grundstück waren sie noch nie gewesen … und man konnte ja nicht wissen ...

Endlich hatten sich alle in die Hütte gedrängt. Jens, als Anführer, setzte sich als erster. Schließlich musste er zeigen, dass wenigstens er keine Angst hatte. Petra, die klügste und ehrgeizigste der Gruppe, quetschte sich neben ihn und Sonja, das einzige Mädchen, das früher oft, aber natürlich vergeblich, versucht hatte, die Jungen von ihren Prügeleien abzubringen. Dann kam Hardy, der sich eigentlich langweilte, weil ihn nur Geschichte interessierte, genauer, nur die Zeit der Königreiche und früher, Hagen, der brummte „Na, da bin ich aber gespannt“, um sich Mut zu machen und den anderen zu zeigen, dass er welchen hatte, und die kleine blonde Lisa, die heimlich hoffte, Rahman möge sie endlich zur Kenntnis nehmen. Als letzter kroch Rahman selbst hinterher, in der Hand eine Kugel. Er konnte sie mit seinen Fingern etwa zu einem Drittel umfassen. Sie hatte ungefähr zehn Zentimeter Durchmesser. So schätzten die anderen, und waren etwas enttäuscht. Das angekündigte Wunderding war völlig unscheinbar und grau, sofern die Farbe im Dämmerlicht überhaupt festzustellen war. Nein. Obwohl Rahman sie hochhielt, fiel keinem etwas Bemerkenswertes an ihr auf.

„Wunderkugeln sehen bestimmt anders aus.“ Damit sprach Hagen aus, was eigentlich alle dachten.

„Na, dann nimm mal!“ wandte sich Rahman an Lisa.

„Uff!“ rief das Mädchen überrascht, nachdem sie die Kugel aufgefangen hatte. „Ist die leicht! Mit der bekäm sogar ich im Kugelstoßen ´ne Eins. Ein Ball aus Stein. Hohl?“

Rahman zuckte mit den Achseln und Lisa reichte die Kugel weiter. Alle wogen sie in den Händen, strichen über ihre Oberfläche und stimmten Lisa zu. „Ein Stein ist es nicht“, sagte Sonja, „aber was dann?“

Hagen brummte unwillig. „Okay, etwas sonderbar.“

Rahman war mit der Reaktion der anderen zufrieden. Er verschwand kurz und kam mit fünf weiteren Kugeln zurück. „So, jetzt könnt ihr vergleichen!“ Lisa betastete eine zweite Kugel, warf sie leicht hoch, fing sie auf und meinte: „Die ist genauso.“

„Und der Rest?“ Rahman wartete ab, bis Hagen als letzter der Gruppe alle Kugeln miteinander verglichen hatte. Es gab keinen Zweifel. Alle sechs waren absolut identisch. Dieselbe graue Farbe, die glatte Oberfläche und das geringe Gewicht – mehr Eigenschaften ließen sich beim besten Willen nicht feststellen.

  „Das werden wir gleich haben!“ Petra nahm Sonjas Kugel in die linke Hand und klopfte sie gegen ihre eigene. Ein dumpfer Ton, kein Nachhall. „Hm: Hohl klingt anders“, stellte Petra nachdenklich fest. Was hätte sie sonst feststellen können?

Nun schlugen auch die anderen ihre Kugeln aneinander. Immer derselbe Ton. „Wenn ichs doch sage“, murrte Petra. Warum glaubten die anderen ihr nicht? Dann mutmaßte sie: „Vielleicht ist was Flüssiges drin?“

„In einem Stein… Erzähl das deiner Oma!“ Hardy tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn.

Unbemerkt war Rahman noch einmal nach draußen gegangen. Als er wieder in der Tür auftauchte, mühte er sich vorwärts wie ein alter Mann, dem die Last den Rücken gekrümmt hatte. Hardy und Hagen lachten. Es sah einfach zu komisch aus. Rahman presste seine Kugel mit beiden Händen an die Brust. Trotzdem konnte er sie anscheinend nicht halten. Dumpf schlug sie vor seinen Fußspitzen auf den Boden.

„Sehr witzig! So was Schweres haben wir noch nie gesehen.“ Hagen griff lässig mit seiner Linken nach der Kugel. Pech für ihn. Nicht nur, dass sich die Kugel am Boden kaum bewegte, Hagen fiel auch noch seine eigene aus der Hand. Wie von einer magischen Kraft angezogen rollte sie auf die schwere zu und blieb fest an ihr haften.

 „Lasst die anderen ruhig auch los!“ forderte Rahman.

Kaum am Boden, kullerten die übrigen Kugeln zu der schweren und blieben an ihr haften.

„Von wegen Wunderkugeln … Wahrscheinlich ist ein Magnet drin!“ Enttäuscht zog Petra die Schultern hoch.

„Kann sein. Vielleicht so etwas Ähnliches“, antwortete Rahman, „aber was es wirklich ist, weiß ich noch nicht. Die leichten Kugeln ziehn einander nämlich nicht an.“ Das hatten die anderen Kinder ja selbst ausprobieren können.

„Wo hast du die denn her?“ fragte Lisa.

„Hab ich doch schon gesagt. Ausgebuddelt beim Bauen auf unserem Grundstück.“

„Wie Steine?“ Hagen sah abwechselnd mal zu dem Kugelhaufen, mal zu seinem Besitzer.

„Wie Steine. Aber dass das keine sind, merkt man ja wohl, oder?“

 „Ob die irgend wofür gut sind? Einfach so in der Erde?“ Lisa guckte etwas verträumt auf den Jungen, dessen Gesichtszüge fast ganz vom Schatten des blauschwarzen Haares verborgen wurden.

„Ist doch klar. Die lagen schon lange dort. Vielleicht Kanonenkugeln aus Wallensteins Zeit.“ Hardy sprang auf. Fast wäre er mit dem Kopf an die Decke der Hütte gestoßen. Die anderen lachten.

„Du immer mit deinem Wallenstein!“ Hagen winkte stöhnend ab. „Du nervst!“

„Klar: Wallensteins Astrologe hat sie hohl gezaubert. Damit sie extra weit fliegen. Warte, ich hab einen besseren Vorschlag: Die gehörten Münchhausen. Der ist drauf geritten.“ Mit einem kräftigen Ruck löste Jens eine der Kugeln von den anderen und hielt sie sich unter den Hintern. Alle prusteten los und hielten sich die Bäuche, bis Petra aus heiterem Himmel heraus behauptete: „Die kommen aus dem Weltall!“.

Sofort verstummten die anderen. Zugestimmt hätte zwar keiner – außerirdische Kugeln, das war natürlich auch Quatsch – aber faszinierend war der Gedanke schon.

Das war seine Gelegenheit. Rahman rutschte auf seinem Platz hin und her. „Es sind genau sieben – so wie wir“, sagte er mit betont feierlicher Stimme. „Jeder könnte also eine behalten. Wenn ihr schweigen könnt. Dass mir niemand was davon erzählt! Vor allem keinem Erwachsenen. Dann wären wir sie wieder los. Bestimmt.“ Alle nickten schweigend. Rahman verteilte die Kugeln. Die leichten zuerst. Lisa gab er zum Schluss die schwere. Er versicherte ihr, dass er sie ihr nach Hause tragen werde. Lisa lächelte glücklich. Also mochte Rahman sie doch.

„So, und jetzt muss jeder schwören“, fuhr Rahman mit seiner Rede fort. „Wir wollen die Kugeln fürs ganze Leben sicher verwahren und keinem außerhalb unserer Gruppe davon erzählen. Von nun an treffen wir uns hier in jedem Jahr am selben Tag.“

War das feierlich! „Hat jemand was zum Schreiben dabei?“ Wenn Rahman in diesem Moment von jedem einen Blutstropfen verlangt hätte – er hätte ihn wohl bekommen. Selbst Hagen riss sich zusammen. Plötzlich verband sie alle ein durch unheimliche Kugeln, vielleicht sogar außerirdische, besiegelter Bund.

Sie schwiegen einen Moment lang, blieben aber nicht mehr lange in der Hütte versammelt. Jeder nahm seine Kugel und ging.

 

Was so pathetisch begonnen hatte, hielt trotzdem dem Alltag nicht stand. Schon vor Ablauf des ersten Jahres zog Lisas Mutter zu ihrem neuen Lebenspartner nach Berlin, und nahm die heimlich verliebte Elfjährige natürlich mit. Die arme Lisa fühlte sich wie Gepäck. Kurz vor der Abreise betrachtete sie traurig die bis dahin mit vielen Tricks verborgene Kugel. Grübelte lange, bis sie eine Lösung fand, das schwere Symbol ihres Bundes wenigstens heimlich in ihrem Gepäck unterzubringen. Lisa hatte sogar daran gedacht, die Kugel Rahman zurückzugeben. Es war eigentlich doch seine. Aber was hatte er gesagt? „Sie ziehen sich an wie Magnete. So wie wir.“ Lisa hatte ihm dafür einen ganz langen Kuss gegeben.

Ob es etwas verändert hätte, wenn aus den Beiden ein Paar geworden wäre? Wohl kaum. Auch die anderen gingen getrennte Wege und mit ihnen ihre Kugeln.

Bald dachten sie nur noch ungern an ihren Bund. Hatte die damalige Szene, diese naive Begeisterung nicht etwas kindlich Naives, ja sogar Komisches? Die war doch richtig peinlich! Als ob es nicht genügt hätte, dass sie ständig wegen ihrer Herkunft verprügelt worden waren! Spätestens mit zwölf, dreizehn waren sie zu erwachsen für solche Spiele.

Zunächst trafen sie sich noch. Lisa schrieb Rahman wöchentlich einen schmachtenden Brief. Dann ungefähr monatlich. Dann kam in ihre neue Klasse ein Junge, der ungeheure Ähnlichkeit mit Porty hatte, und ohne ein Porty-Poster kam kein Mädchenzimmer aus. So gab es noch einen Brief an Rahman, um den Termin ihres Treffens zu verabreden, das nicht zustande kam.

    Die Faszination des kindlichen Schatzes ließ immer mehr nach. Die Näsies wurden inzwischen auch nicht mehr verprügelt. Eigentlich hatte nur das sie vorher zusammengehalten. Rahman, Hardy und Hagen versuchten noch ein paar Mal, dem Geheimnis ihrer Wunderkugeln auf den Grund zu gehen. Wunder konnte es einfach nicht geben. Mit Steinen und Hämmern klopften die Jungen auf ihren Kugeln herum. Hardy lieh sich dafür von seinem Vater einen Körner aus, sie spannten die Kugel im Schraubstock ein… Das einzige was sie erreichten, war, dass der Körner abrutschte und Hagen ein paar Tage humpelnd herumlief. Die Kugeln ließen sich nicht beeindrucken. Selbst wiederholte Flüge gegen die Granitblöcke der Kirchenmauer störten sie nicht. Im Gegensatz zu der Mauer hatten die Kugeloberflächen danach nicht einmal einen Kratzer. So etwas hatten die Jungen noch nie erlebt. Sie phantasierten ein wenig, was das wohl zu bedeuten habe. Aber das gab sich bald wieder. Die Kugeln fristeten für Jahre ein unbeachtetes Dasein. Sie schienen sich zu nichts mehr zu eignen als zum Symbol einer endlich abgeschlossenen Kinderzeit.

 

 

 

 

 

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