Hardy hatte nur Handgepäck bei sich. Scheckkarten und Ticket steckten in der Jacke. Gleich nach der Ankunft würde er sich in Ruhe alles Nötige vor Ort kaufen. Er brauchte nur darauf zu achten, wann sein Flug C 430 aufgerufen würde. Dann käme noch ein gefährlicher Moment. Er musste Pass und Ticket zwecks Kontrolle kurz aus der Tasche nehmen, die Bordkarte …
Sitzplätze zum Warten gab es nicht. Ob es sich für eine Dreiviertelstunde lohnte, sich zum Restaurant durchzudrängen?
C 430 ab Gate 3. Hardy erinnerte sich an eine Alarmübung in der Schule. Vergeblich hatten die Lehrer gerufen Aufstellen in Zweierreihen und Langsam hintereinander rausgehen! Seine Mitschüler waren gekugelt, zusammengestoßen, hatten sich geschubst, Lenka war auf der Treppe gestolpert, sie waren über sie hinweggetrampelt, weil von hinten die nächsten nachdrängten … Genau wie solche aufgescheuchten Kinder führten sich die Leute auf. Hardy fühlte sich fremd unter ihnen. Er hoffte nur, dass noch andere zu Gate 3 wollten und sich die Mexikoflieger dort sammeln würden, aber er wagte nicht, die Verrückten um ihn herum anzureden. Die Anzeigetafel war dunkel; auch sonst war nichts zu sehen, woran er sich hätte orientieren können. Hardy fragte sich, ob das Sicherheitssystem die Ferndiagnose so schnell schaffen konnte oder ob auch das ausgefallen war. Zum Glück war das nicht sein Problem.
Mehrere Schüsse fielen. Der Haufen stoppte. Niemand um Hardy herum konnte sehen, was los war, aber alle nahmen an, dass am Rollfeld Soldaten Warnschüsse in die Luft abgegeben hatten. Hardys Laune besserte sich wieder. Wenigstens bemühten sich die Sicherheitskräfte, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Sein Flugzeug hätte in zwei Minuten abheben müssen. Das war nicht zu schaffen. Aber hatte man seinen Flug überhaupt schon angekündigt?
Gate 3 war nicht mehr weit. Hardy wollte gerade die junge Frau, die neben ihm krampfhaft eine lederne Handtasche an die Brust presste, danach fragen – vielleicht hatte sie gar dasselbe Ziel wie er – da geriet die Masse hinter ihm wieder in Bewegung. Hardy stemmte den Rücken gegen die Horde. Konnten die sich denn nicht zusammenreißen? Hier wären Wasserwerfer nötig, um endlich Ordnung zu schaffen. Jemand brüllte, dass in der Halle Flug C 430 letztmalig aufgerufen worden war. Er müsse doch mit weg!
Eingekeilt wie er war, hätte Hardy beinahe genau wie dieser Jemand aufgegeben, sein Flugzeug tatsächlich zu erreichen. Das hatte er noch auf keinem Airport erlebt. Aber dann … War das Glück? Irgendwer musste sich durchgesetzt haben. Plötzlich war unmittelbar vor Hardy der Weg frei. Der Tunnel zur Gangway. Ruhig holte Hardy sein Ticket heraus, seine Bordkarte … Er wurde weitergewunken.
Hardy atmete tief durch. Beinahe schlendernd legte er die letzten Meter bis zum Flugzeug zurück. Er lächelte die Flugbegleiterin an. Sie brauche es ihm nicht zu erklären. Er wusste ja, wo Platz 58 war. Erlöst ließ er sich auf den Sitz fallen. Er versuchte sich abzulenken. Nur nicht hinsehen. Dass er ausgerechnet einen Fensterplatz erwischen musste! Wenn er nach draußen sah, war eine Tragfläche zu erkennen, und Hardys Phantasie setzte sie schon in Flammen.
Vier Platzreihen vor ihm brüllte ein Herr im Rentenalter die dort sitzende Frau an, sie solle seinen Platz räumen. Hardy erkannte die Nachbarin aus dem Gedränge wieder. Wer blies sich denn da schon wieder auf? Das gab es doch gar nicht. Die Frau antwortete leise. Hardy nahm an, sie behauptete, dass sie auf ihrem eigenen Platz säße. Was sonst? Jedenfalls versuchte der Mann gegen den Strom durch den Gang zur Flugbegleiterin zu gelangen. Aber am Eingang tobte gerade ein weiterer heftiger Streit.
In dem Moment klopfte jemand auf Hardys Schulter. „Sie sitzen auf meinem Platz.“
Hardy drehte sich langsam um, erblickte einen Hünen hinter sich, sah sich angehoben, saß plötzlich im Gang, erhob sich, merkte nur, dass um ihn herum ein Gewirr von Stimmen war, begriff, dass viele jeweils dieselben Plätze für sich beanspruchten. Eine allgemeine Rauferei bahnte sich an. Hardy erinnerte sich an Meldungen, dass Banden gewerbsmäßig gefälschte Flugunterlagen verkauften. Jenner würde ihm doch nicht etwa … Nein, das konnte nicht sein.
Hardy freute sich darüber, dass Soldaten im Eingang auftauchten, dann spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Mit Blick auf die Gangway kam er wieder zu sich. Sein erster Gedanke dabei: Er würde sie gleich hinunterstürzen. Er hob die rechte Hand, um sich zur Wehr zu setzen. Da wurde ihm schwarz vor Augen. Dass die Soldaten das Flugzeug wieder verließen und der Flugbegleiterin erklärten, es sei alles klar zum Start, erlebte er nicht mehr. Er erlebte gar nichts mehr.