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25. Juli 2010 7 25 /07 /Juli /2010 06:59
 

Liebe Marina,

du hast dich immer beschwert, warum ich es dir in den 20 gemeinsamen Jahren überlassen habe, den Kurs unseres Familienschiffes vorzugeben. Nein, stimmt nicht, anfangs hast du dich ja gefreut, dich so leicht durchzusetzen. Aber dann war dir das wohl zu einfach. Wahrscheinlich hättest du meinen Widerstand überwinden wollen – um dann über mich zu bestimmen. Jetzt, wo ich endgültig ausgecheckt habe, sollst du erfahren, was mich so geprägt hat. Nein, wieder Korrektur: Natürlich war ich von Anfang an wenig entscheidungsfreudig, dass ich nie zum Kapitän getaugt hätte. Aber vor jenem Erlebnis hatte ich dagegen angekämpft.

Stell dir vor, ich war damals zwanzig (okay, die Zahl spielt wohl in meinem Leben eine besondere Rolle) und ein richtiges Muttersöhnchen. Ich hatte mir gerade die Liebe meines Lebens verdorben, weil ich nicht kurz entschlossen hatte Vater werden können. Da nahm ich mir fest vor: Von jetzt ab werde ich ein anderer Mensch. Ich unternehme ganz tolle Dinge, spontan und absurd, so, dass wenn ich einmal alt geworden sein sollte, ich über meine selbst erlebten Abenteuer ein Buch schreiben könnte.

Meinen Eltern erzählte ich, dass ich die bevorstehenden vier Urlaubswochen mit meinem Freund, den sie gut kannten, verbringen wollte. Ich packte ein wenig Zeug für unterwegs und eine ausgemusterte Armeezeltplane in meinen Rucksack, verließ unsere Wohnung und fuhr mit der Straßenbahn bis nahe an den Ortsausgang Schwerin Richtung Norden, also Wismar. Als erstes wollte ich an den Strand, so richtig Weltwetterbräune anlegen, damit ich interessanter aussähe. Danach würde ich weitersehen. Dass ich schon damals ein absoluter FKK-Fan war, dass für mich überhaupt nichts Anderes in Frage kam, und sei es nur, weil ich dort vor meinen Eltern sicher war, das habe ich dir ja erzählt. Und ich wusste, hinter Wismar kommt die Insel Poel, auf der Insel Poel gibt es den Strand von Timmendorf und der Strand von Timmendorf hat eine weichsandige Seite für die Verhüllten und eine etwas steinigere für die Freikörperkultur. Dorthin wollte ich trampen. Ich hatte zwar noch nie draußen und allein übernachtet, aber auch das würde sich wohl finden.

Trampen. Das war gut gesagt. Wie macht man sowas? Anders gefragt: Wie konnte ich Autofahrer davon überzeugen, für mich anzuhalten?

Bevor ich wissenschaftlich exakte Analysen zu der Frage anstellen konnte, eigentlich sogar, bevor ich überhaupt angefangen hatte, mittels Daumen meine Absicht zu verkünden, hatte ein wahrscheinlich aus frisch abgefrackten Weltkriegspanzerteilen zusammenmontierter Skoda zehn Meter vor mir gehalten. Ein Endfünfziger in Blaumann hielt das Lenkrad vorsorglich fest, damit es nicht abfiel. Er roch wie frisch einem Güllebad entstiegen, verbreitete seine Ausdünstungen wie einen Kometenschweif aus den heruntergedrehten Fenstern und erzählte die Lebensgeschichten seiner mehr als sechzigköpfigen Verwandtschaft im Schnelldurchlauf ohne erkennbar Luft zu holen. Da ich dies alles nicht vorhergesehen hatte, war ich vor dem Einsteigen glücklich, so schnell ein Auto gefunden zu haben, und nachher, dass er mich nur bis Bad Kleinen mitnahm.

Dort aber wurde mir meine missliche Lage bewusst, kaum dass sein Duft der begrenzt weiten Welt wäre aus meinen Sachen gewichen war. Ich musste noch ein langes Stück bis zum Ortsausgang laufen. Aber was wichtiger war: Nun war ich wirklich auf mich gestellt.

Kaum gedacht, freute mich das Gegenteil: Hinten dem Ortsausgangsschild stand ein Junge meines Alters und streckte den Daumen Richtung Norden. Ein Tippelbruder zur Gesellschaft?.

Wenn ich ehrlich bin, weiß ich heute nicht mehr, wie er sein Ziel beschrieb. Irgendwas mit Ostsee jedenfalls. Wo sollte er von hier aus sonst hin wollen?

Eine halbe Stunde lang verständigten wir uns – mal kam nichts, dann ein Fahrzeug, dass deutlich zeigte, es wollte uns nicht. Die beiden wichtigsten Erkenntnisse: Er war zwar erfahren im Trampen, aber noch nie an einem FKK-Strand gewesen und absolut scharf darauf, dieses für ihn Fremde endlich zu erleben... womit ich also eine Erfahrung besaß, an der ihm gelegen war. Wir würden uns gegenseitig ergänzen.

Inzwischen war die Zeit heran für die Entscheidung, noch ein zweites Frühstück oder schon zu Mittag zu essen. Wir wollten uns gerade etwas von der Straße entfernt unseren Proviant aus den Rucksäcken holen, da passierte etwas, was werdenden Männern sonst nur in sogenannten feuchten Träumen passiert: Ein kleines Auto, zum Cabio umfrisiert, tuckerte uns entgegen. Am Steuer und auf dem Beifahrersitz saß je eine Blondine. Beide waren etwa in unserem Alter und sahen von weitem und von Nahem aus wie Mädchen, die man für phantasiebedürftige Soldatenstunden an Spindwände pinnte. Und diese Mädchen winkten, lachten, luden uns, die Verwirrung, die ihre Erscheinung hervorgerufen hatte, genießend auf die beiden freien Hintersitze und tuckelten weiter.

Ulrike und Susanne verstanden es, uns in ein erfrischendes Gespräch zu verwickeln.

Hätten wir doch nur eine Minute gehabt, uns abzustimmen! Aber so sehr wir sofort den Wunsch hatten, den Rest des Tages mit diesen Traumgirls zu verbringen, so sehr waren wir innerlich vermauert durch unser abgesprochenes Vorhaben. Als uns die Mädchen fragten, wohin wir wollten, antworteten wir im Duett Timmendorf und verschwiegen verklemmt, dass wir nur deshalb dorthin wollten, weil dort der einzige mir, also uns bekannte FKK-Strand lag – und die beiden dorthin einzuladen fehlte uns beiden das letzte nötige Stück spontanen Mutes. „Da bringen wir euch hin. Wir fahren dann weiter nach Wangern.“

So geschah es dann auch. Die nicht sonderlich lange Fahrt mit diesen Traummädchen wurde schnell zur verwischten, unwirklichen Erinneung.Wir suchten uns eine Badestelle, verbrachten einen amüsanten Nachmittag, lernten in einer Strandgaststätte eine Gruppe Jugendlicher kennen. Marko unterbrach unseren Bierabend durch einen Abstecher ins Zelt einer Tina. Ich trank so lange, bis es mir egal war, dass mir so etwas nie gelang. Irgendwie war das bereits der Anfang unsee Trennung. An einen Folgetag mit Marko kann ich mich nur dunkel einnern. Da saßen wir auf einem Bauenwagen und nahmen beide das Angebot an, melkwarme Milch zu trinken und mir bekam die nicht. Ich trampte jedenfalls den Rest der vier Wochen kreuz und quer durch die DDR. Beim Einschlafen dachte ich immer an meine gescheiterte Liebe und dass die begeistert gewesen wäre über die Verrücktheiten, die ich mir unterwegs leistete.

Damit war in jenem Jahr mein Erlebnishorizont erreicht. Erst im folgenden kam die kalte Dusche. Da trampte ich nämlich wieder nach Poel. Diesmal nahm mich eine Familie mit zwei kleinen Kindern mit. Und im lockeren Plaudern erklärten sie mir, dass sie immer nach Wangern führen, weil das ein besonders familienfreundlicher FKK-Strand sei. Sonst seien diese Strände immer so steinig und...

Was sie noch erzählten, hallte an mir vorbei. Wie alberne Wassernixen tauchten die lachenden Gesichter von Ulrike und Susanne vor meinem inneren Auge auf. Wir hätten im Jahr zuvor nur zu sagen brauchen „Da kommen wir mit!“ und schon wäre nur noch eine Frage offen geblieben: Für wen hätte sich Ulrike, für wen Susanne entschieden. Wie gern hätte ich genommen, wer übrig geblieben wäre! Mein Leben lang hätte ich mich 1000 Prozent männlicher gefühlt – und den Körper des Mädchens mit Marco hätte ich wenigstens bewundern können. Alles verloren, nur weil ich einmal den Weg bestimmt und nicht gewusst hatte, dass der andere der bessere gewesen wäre!

Diesen Fehler wollte ich nie wiederholen. Aber irgendwann, also mindestens jetzt, wurde mir dein Strand zu steinig und ich sehne mich zurück an die weiten der Sonne ungeschützt dargebotenen Sandmassen der Wangener Nackten. Jetzt aber als meine Entscheidung für den unbekannten Weg.

 

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Kommentare

U
"vom Kurs abweichen" - nur wer bestimmt den Kurs<br /> wenn nicht du selbst.(eine gute Ausrede sind oft die Lebensumstände ...)<br /> Hoffentlich kann ich bald in der Geschichte weiterlesen. LG Uschi
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